Der neue Engel mit der hundertjährigen Geschichte

Kunst

1920 malte Paul Klee den «Angelus Novus». Der Dichter Walter Benjamin hat ihn vor 100 Jahren gekauft und schriftlich verewigt. So wurde er zum bedeutendsten Engel in Klees Werk.

101 Jahre alt, Zustand fragil, kaum mehr transportfähig und herzeigbar. Dieser vergilbte goldene Engel von Paul Klee hat etwas Sonderbares an sich. Unter der lockigen Mähne ein fast löwenartiges Antlitz, der Kopf wirkt überdimensioniert im Vergleich zum Rest des Körpers; flächig-fein die (noch) kleinen Flügel mit fünffingrigen Enden sind erhoben, wie zum Segen ausgebreitet. Oder Einhalt gebietend: Stopp?

Ein in die Jahre gekommener Babyengel mit Löwenhaupt und einem filigranen Vogelköper, der einem dieser Origami-Kraniche ähnelt: Paul Klees «Angelus Novus», ein neuer oder eben neugeborener Engel, ist nicht nur einer der bekanntesten Gottesboten der Kunstgeschichte, sondern auch einer mit mächtiger Ausstrahlung und Wirkungsgeschichte. Viele haben ihn beschrieben und bedichtet, allen voran Walter Benjamin (1892 bis 1940), der ihn vor 100 Jahren erstand und ihn sich in Berlin übers Sofa hängte. Benjamin liess den Engel im Lauf seines Lebens immer wieder in seinen Texten erscheinen, und der «Angelus Novus» sollte sein wertvollster Besitz werden.

Ein Trümmerkind: in der Krise geboren

Gemalt hat ihn Paul Klee 1920 in München, zu einer Zeit, als Europa vom Ersten Weltkrieg gezeichnet war und die letzte Welle der Spanischen Grippe wütete. «Der Angelus Novus ist sein berühmtester Engel» sagt Fabienne Eggelhöfer, Chefkuratorin des Zentrums Paul Klee ZPK. Klee hat zwischen 1915 und 1940 eine ganze Serie von rund 50 Engeln erschaffen. Die Expertin weist darauf hin, der Künstler habe in seinen Bildern verschiedene Sphären von Realität und Abstraktion miteinander kombiniert: «So eröffnete er Zwischenwelten, in welchen auch unterschiedliche Mischwesen zuhause sind.» Nach Klees eigenen Worten sind seine Engel Geschöpfe, die sich im «Vorzimmer der Engelschaft» befinden. Im ZPK ist eine beachtliche Sammlung dieser unfertigen Klee-Engel zu sehen, der «Angelus Novus» jedoch hängt wegen seiner Geschichte im Israel-Museum in Jerusalem.

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heisst. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt ... Der Engel der Geschichte muss so aussehen.
Walter Benjamin, Schriftsteller, 1940 («Über den Begriff der Geschichte», 9. These)

Eine Hymne zum Geburtstag

Als Benjamin den Engel Ende April 1921 in München auf einer Ausstellung erstand, begleitete ihn der jüdische Religionshistoriker Ger­shom Scholem, der von dem Werk ebenso begeistert war wie Benjamin. Scholem, der das Bild von Benjamin zur vorläufigen Aufbewahrung anvertraut bekam, dichtete für Benjamin zum Geburtstag einen «Gruss vom Angelus»: «Mein Auge ist ganz schwarz und voll / mein Blick wird niemals leer / ich weiss, was ich verkünden soll / und weiss noch vieles mehr». Scholem weist Benjamin zudem darauf hin, dass nach jüdischer Mystik stetig neue Engel entstehen und gleich wieder im Nichts verschwinden. Der Zweck ihrer kurzen Existenz besteht einzig darin, für Gott eine Hymne zu singen.

Ein wortloser Engel des Wortes

Die Vorstellung des Engels als singendem Botschafter gefällt Benjamin, ja er plant sogar eine Literaturzeitschrift mit dem Titel «Angelus Novus», die aber nie erscheint. Der neue Engel sei ein Engel des Wortes, meinen Kommentatoren: Der Mund geöffnet, verkünde er eine Botschaft, die grossen Lauscher dienten dem aufmerksamen Zuhören. Ein sprechender Mittler, die Sprache sein Mittel, der Inhalt aber bleibt geheimnisvoll. Neben Sholem und Benjamin haben auch viele andere diesen geheimnisvollen «Engelsmann» (Sholem) beschrieben und besungen.

Paul Klee in Bern

Obwohl Paul Klee (1879–1940) in der Schweiz geboren und gestorben ist, gilt er als deutscher Maler. Er stellte gemeinsam mit der Künstlergruppe «Der Blaue Reiter» aus, lehrte am Bauhaus in Weimar und Dessau sowie an der Kunstakademie Düsseldorf. Ein Jahr nach der Machtergreifung der Nazis zog er 1934 nach Bern. Die bedeutendste Sammlung an Klee-Werken, es sind über 4000, beherbergt das Zentrum Paul Klee (ZPK) in Bern. Aktuell dort zu sehen ist eine Ausstellung über die ironische, politische und gesellschaftskritische Seite von Paul Klee: «Menschen unter sich» (bis 22. Mai 2022) will aufzeigen, dass Klee oft einen quasi «überirdischen» Blick auf die Menschen einnahm. Mit Engeln beschäftigte sich Klee ab 1915 wiederholt. In seiner Berner Zeit entstand ab 1938 eine zweite lose Folge von rund 40 Engel-Darstellungen. Fabienne Eggelhöfer, Chefkuratorin des ZPK, sagt, sie hätten den engelhaften Zustand noch nicht erreicht: «Klee charakterisierte seine Engel als unfertig, hässlich oder vergesslich.»

Vom Engel verlassen

Klees Engel begleitet Benjamin durch wechselvolle Jahre, fliesst in verschiedene seiner Texte ein, geht ihm verloren, kehrt immer wieder zu ihm zurück; 1933 hat Benjamin das Bild auf der Flucht vor den Nazis zurücklassen müssen, 1935 bringt ihm eine Bekannte den Engel nach Paris ins Exil. 1940 begibt sich Benjamin erneut auf eine ausweglos scheinende Flucht, will über Spanien in die USA und lässt den Engel in Paris: Ein Freund versteckt ihn in der Nationalbibliothek. Walter Benjamin nimmt sich in Spanien auf der Flucht das Leben, und auf Umwegen gelangt sein Engel zu Gershom Scholem, dem er den Angelus schon 1932 testamentarisch vermacht hat, nach Israel. Sholems Erben schenken das geschichtsträchtige Werk dem Israel Museum in Jerusalem.

Der dunkle Blick zurück

Unsterblich gemacht hat den jungen Engel ein Text, den Benjamin kurz vor seinem Tod 1940 schrieb. Er trägt den Titel «Der Engel der Geschichte». Der Engel sehe aus, «als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt (...). Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet (...). Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schliessen kann (...). Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.»

Der unaufhaltsame Fortschritt

Mit diesen Worten wurde aus dem Angelus Novus ein Engel der Geschichte, der erschrocken auf die grossen Katastrophen der Vergangenheit schaut. Die Klee-Expertin Fabienne Eggelhöfer sagt: «So wie ihn Walter Benjamin interpretierte, scheint er auch in unserer heutigen Zeit nichts an Aktualität verloren zu haben.» Der dunkle Blick, die erhobenen Hände – sie sind plötzlich keine Segensgeste mehr, sondern ein Einhaltgebieten. Der Angelus Novus scheint vor dem Fortschritt zu warnen, der für den heranwachsenden Engel unaufhaltsam ist. Wenn überhaupt, können uns nur ausgewachsene, erwachsenene Engel, die bereits fliegen können, vor dem Sturm des Fortschritts bewahren. Benjamins «Engel der Geschichte» kann es nicht.

So wie ihn Walter Benjamin interpretierte, scheint der Engel der Geschichte auch in unserer heutigen Zeit nichts an Aktualität verloren zu haben.
Fabienne Eggelhöfer, Klee-Expertin und Chefkuratorin des Zentrum Paul Klee, Bern

Die darunterliegende Schicht ...

Walter Benjamin hat im Laufe seines Lebens die Bedeutung des Angelus Novus mehrmals umgeschrieben. Wie er ursprünglich von Klee gemeint war, darüber kann man heute nur rätseln. Umso mehr als 2015 eine Entdeckung der amerikanischen Künstlerin R.H. Quaytman für Furore sorgte; Klee hatte mit dem Angelus Novus ein älteres Bild aus dem 19. Jahrhundert übermalt – und dieser Malgrund war ein Portrait von Martin Luther! Paul Klee hat mit dem Angelus Novus 1920 also Luther «verengelt».

... gibt neue Rätsel auf

Was Klees Beweggründe dafür waren und ob Walter Benjamin etwas von diesem Untergrund wusste (obwohl er es nie erwähnt hat) – wir werden es wohl nie erfahren. Eines von Paul Klees Credos lautete: «Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.» Was dabei sichtbar wird, ist die Frage, die sich den Betrachtenden stellt. Walter Benjamins Texte zeigen: Je nach Standpunkt im Leben kommen dabei ganz unterschiedliche Antworten heraus. Der Angelus Novus wurde zum bewegten Spiegel von Benjamins eigener schicksalshafter Geschichte, die beispielhaft für so viele Verfolgte steht. Nur so konnte der Angelus Novus zu einer Ikone für die Welt nach 1945 werden.