Recherche 06. Januar 2022, von Rommel Roberts

Er ging den schwierigen Weg echter Versöhnung

Nachruf

Theologe Rommel Roberts ist ein Wegbegleiter des verstorbenen Erzbischofs Desmond Tutu. Der Menschenrechtsaktivist wirft einen persönlichen Blick auf den Friedensnobelpreisträger.

Desmond Tutu war ein tief spiritueller Mensch. Täglich nahm er sich Zeit für Stille und Gebet. Das unterschied ihn von den meisten anderen Führungspersönlichkeiten in Südafrika, selbst von Nelson Mandela.

Der anglikanische Erzbischof liess sich nie von Machtkämpfen, politischem Kalkül oder der Masse beeinflussen. Wurden er oder andere mit dem Tod bedroht, blieb er ruhig und konzentrierte sich darauf, zu helfen. Er wollte immer für alle Kinder Gottes da sein.

Rommel Roberts (72)

Rommel Roberts (72)

Der Theologe und Menschenrechtsaktivist Rommel Roberts, geboren 1949 in Durban, Südafrika, war schon als Kind mit den Auswirkungen der Apartheid konfrontiert. Als Entwicklungsbeauftragter von Bischof Desmond Tutu kämpfte er gegen die Apartheidregierung. In den Jahren nach Nelson Mandelas Freilassung half er unter anderem mit, demokratische und wirtschaftliche Strukturen aufzubauen. Bis heute ist als Berater tätig für verschiedene Institutionen auf Regierungs- und Gemeindeebene. Er hält Gastvorträge an Universitäten über Gemeindeentwicklung, Kommunikation und Konfliktlösung. Auch politisch ist Roberts nach wie vor aktiv und kritisiert Korruption sowie die ungleichen Lebensbedingungen im heutigen Südafrika.

Meine Arbeit mit Bischof Tutu begann 1978, als ich ihn das erste Mal im Büro des Südafrikanischen Kirchenrats in Johannesburg traf. Er war gerade als Generalsekretär der Organisation eingesetzt worden und bat mich, sein nationaler Entwicklungsbeauftragter zu werden. Ich sollte in die verschiedenen Teile des Landes reisen und mich dort mit Kirchenvertretern treffen, die sich für die Menschenrechte engagierten.

Zu meiner Aufgabe gehörte es, Verbindungen herzustellen zwischen den internationalen Geldgebern, den Unterstützern aus Europa und dem Weltkirchenrat. Die verzweifelten Südafrikaner brauchten diesen Beistand in ihrem Kampf gegen den brutalen Apparat der Apartheidregierung. Etliche Aktivisten waren im Gefängnis schon getötet worden.

Gespaltene Kirche

Bischof Tutu agierte in einem hochgradig explosiven Umfeld. Der Staat ging rigoros gegen die Antiapartheidsaktionen vor. Die Kirchengemeinden waren gespalten. Die konservativen Kirchen, angeführt von der Niederländisch-Reformierten Kirche, rechtfertigten die Politik der Apartheid, während andere die Regierung kritisierten.

Tutu wurde schnell zur Stimme der Antiapartheid, indem er den Asengasi Fonds gründete, aus dem er Gelder an die Familien der Gefangenen oder von Aktivisten, die Gefängnis ermordet wurden, zahlte. Der Apartheidstaat beschuldigte Bischof Tutu, Untergrundorganisationen zu unterstützen. Beweise, die für eine Verurteilung gereicht hätten, konnte er aber nicht vorlegen.

Das Elend in den Homelands

Die Apartheidregierung erklärte bestimmte Gebiete zu «Homelands», in die sie die Schwarzen umsiedelte. Ich selbst habe in diesen Lagern erlebt, wie dort die Menschen an den Folgen der Apartheidpolitik starben.

Bischof Tutu beschloss, die Umsiedlungscamps in der Provinz Ostkap zu besuchen. In Oxton fragte Tutu ein kleines Mädchen, was sie in den letzten Tagen gegessen habe. Ihre Antwort war «Tee». Dies machte Bischof Tutu wütend und entschlossen. In der Township Crossroads hielt Bischof Tutu seine erste wegweisende Rede, in der er die Regierung und ihre «bösartige» Politik verurteilte. Das Leiden und der unerschütterliche Kampf des einfachen Volkes waren Anstoss und Basis für seine wichtigsten Reden. Ständig waren die Journalisten anwesend und trugen die Botschaft in die Welt.

Seine Stimme wurde gehört

Bischof Tutu hielt seine eindringlichsten Reden in den illegalen Siedlungen der Townships Nyanga und Crossroads. Er rief zu bürgerlichem Ungehorsam und zu internationalen Sanktionen gegen die Apartheid auf.

Tutu verhalf dem gewaltlosen Kampf national und international zu grösserer Dynamik. Und Bischof Tutu war die Stimme, die dieser Dynamik Ausdruck verlieh. Den Höhepunkt bildete 1989 der berühmte Marsch in Kapstadt.

Erbittert bekämpft

In den ersten Jahren von Tutus öffentlichen Reden griff ihn das Apartheidregime erbittert an. Es schreckte jedoch vor seiner Festnahme zurück. Stattdessen nahm es die Leute in seinem Umfeld ins Visier.

Viele wurden verhaftet, darunter ich selbst. Der öffentliche Aufschrei wie auch eine Erklärung von Bischof Tutu führten schliesslich zu meiner Freilassung – nach vielen Wochen Haft und Folter.

Auf den Spuren von Martin Luther King

Der Staat und die Unternehmen wollten die Fahrpreise des öffentlichen Verkehrs erhöhen. Davon profitierten die weissen Gemeinden, die nur einmal zahlten, während die Schwarzen drei Busse nehmen mussten und somit das Dreifache zahlten. Vor Gericht gelang es mir, die Entscheidung der staatlichen Verkehrsbetriebe rückgängig zu machen.

Der grosse Sieg führte zur Entstehung des Legal Resources Centre, der juristischen Institution, die dazu beitragen sollte, viele vom Apartheidregime durchgesetzte Ungleichheiten zu bekämpfen.

Später führten weitere Interventionen des Apartheidstaates zum Busboykott in Cape Town, dem andere Städte folgten. Der Boykott vereinte die Bewegung und endete 1989 im berühmten Marsch von Erzbischof Tutu in Kapstadt. Erzbischof Tutu erinnerte sich manchmal scherzhaft daran mit den Worten «Wir marschierten 1989 und die Apartheid endete. Wir marschierten 1989 und die Berliner Mauer fiel.»

Gegen Radikale in den eigenen Reihen

Das Jahr 1985 war geprägt von den Versuchen radikaler Gruppen, die Bewohner der Townships einzuschüchtern. Eine Lynchjustiz ging gegen Spitzel oder vermeintliche Spitzel der Apartheidsregierung vor. Diese sogenannten Volksgerichte, die hauptsächlich von Jugendlichen geleitet wurden, waren barbarisch. Man ermordete die Menschen, indem man ihnen einen brennenden Autoreifen um den Hals legte.

Das Ziel dieser «Necklacings» war es, jeden in Angst und Schrecken zu versetzen, der es wagte, die korrupte Führung der radikalen Widerstandsbewegung zu hinterfragen. Die Anschuldigungen beruhten auf Verleumdungen. Jedem, der sich dieser Form der Vergeltung entgegenstellte, drohte der Tod.

Bischof Tutu verabscheute diese Aktionen zutiefst. Während dieser Ära spielte Erzbischof Tutu eine entscheidende Rolle, um dem «Necklacing» entgegenzutreten. Wir suchten die Orte gezielt auf und konnten diese grausame Barbarei mit Hilfe von Gebetsgruppen tatsächlich beenden. Die Praxis der «Necklacings» veranlasste Erzbischof Tutu zur Aussage, dass er bereit wäre, das Land zu verlassen, wenn dieses barbarische Vorgehen nicht aufhört. Durch seinen Einfluss hat es aufgehört.

Rache ist kein Fundament

1996 wurde Bischof Tutu gebeten, die Südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission zu leiten. Das war eine der schwierigsten Aufgaben, die man einem Menschen aufbürden konnte. Auf der einen Seite gab es den Schrei nach Gerechtigkeit und Wahrheit, begleitet von Rassismus und gefolgt von Rufen nach Vergeltung und der Forderung, Nürnberger Prozesse durchzuführen.

Auf der anderen Seite gab es die Rufe der Unschuldigen und Unwissenden und die Notwendigkeit, eine neue Nation aufzubauen: Desmond Tutus Regenbogennation, die niemals auf dem Blut der Rache gebildet werden konnte, weil die Zukunft und das Schicksal des Landes auf dem Erfolg der Widerstandskraft und der Fähigkeit zur Versöhnung und Vergebung beruhten.

Gerechtigkeit und Barmherzigkeit

Tutus Aufgabe war es, unter Tränen den Berichten der Opfer und den Schuldbekenntnissen der Täter zuzuhören, Gerechtigkeit mit Barmherzigkeit zu verbinden und Wege zu echter Versöhnung zu schaffen – ein höchst schwieriger Weg, der aller Wahrscheinlichkeit nach 100 Jahre oder mehr dauern würde.

Der Weg der Versöhnung war Desmond Tutus Forderung an Südafrika und seine Vision der Regenbogennation, die heute trotz aller Schwierigkeiten auf dieses Ziel hinsteuert. Dies war das größte Geschenk des Erzbischofs an unser Land und die ganze Welt.