Recherche 24. August 2020, von Felicitas Hoppe

Ohne Ansehen der Person

Predigt

Am 23. August hielt die Schriftstellerin Felicitas Hoppe im Grossmünster eine Kanzelrede über Galater 2,6. Vom Versteckspiel findet sie zur Utopie einer christlichen Gemeinschaft.

Als Kinder versteckten wir uns gern in paradiesischen Gärten, in denen, der uralten Spielregel folgend, eines von uns, die Stirn mit fest zugehaltenen Augen gegen einen Baumstamm gedrückt, langsam und feierlich bis zehn zählen musste, um schließlich laut ICH KOMME zu rufen. Wir anderen suchten nach einem Versteck, hielten den Atem an und duckten uns weg. Der Zauber des alten Versteckspiels ist groß; doch jenseits des fröhlichen Wettbewerbs kennt jedes Kind dieses Schwanken zwischen dem Wunsch, möglichst lange in Deckung zu bleiben und dem Unglück, für immer sitzenzubleiben; weil das Glück des Verbergens nur dem weit größeren Glück vorausgehen will, nicht nur tatsächlich, sondern auch wirklich gefunden zu werden. In anderen Worten: gerufen, erkannt und geliebt zu werden, als der oder die oder das, was man ist.

Dafür muss man gar nicht die Bibel bemühen. Jedes Märchen legt Zeugnis davon ab, dass sich der Mensch, sei es aus Ehrgeiz oder aus nackter Not, zwar permanent versteckt und verwandelt und dabei zahlreiche Metamorphosen durchläuft, schließlich und endlich aber von Erlösung durch die  letzte große Verwandlung träumt, von seiner wahren Gestalt, die er selbst noch nicht kennt. Denn der Mensch ist nun mal darauf angewiesen, dass man ihn wahrnimmt, dass man ihn sieht. Auf das Ansehen der Person kommt es an.

Allerdings kommen Mensch und Person nicht notwendig zur Deckung: Im Altgriechischen meint die Person das, «was man sehen kann», das Gesicht oder die sichtbare Gestalt des Menschen. Eine andere Ableitung verweist auf das Gesicht als Maske, hinter der sich verbirgt, was wir angeblich sind. Jeder von uns kennt die uralte Angst, plötzlich sein Gesicht zu verlieren und sein wahres Gesicht zu zeigen.

Ansehen ist eine so einfache, wie komplizierte Vokabel. Das Verb  meint nichts anderes als hinschauen, wahrnehmen, also etwas zur Kenntnis und in Augenschein nehmen und, im besten Fall, zu betrachten. Doch mit jedem Ansehen, mit jeder Betrachtung geht, bewusst oder unbewusst, eine Zuordnung einher, die sich von einer Bewertung der Wahrnehmung nicht trennen lässt. Wer hinschaut und sieht, ordnet ein, ob er will oder nicht. Er gleicht Bekanntes mit Unbekanntem ab, Unvertrautes mir scheinbar Vertrautem, und bildet dabei ein Vorurteil aus.

Ein anderes Kinder- und Rätselspiel - Ich sehe was, was du nicht siehst! - veranschaulicht auf schöne Weise, dass es beim Sehen auf Perspektive und Fokus ankommt. Ein Spiel, das unsere blinden Flecken entlarvt, von denen im Neuen Testament mehr als nur einmal die Rede ist: Wir sehen den Splitter im Auge des anderen, aber den Balken im eigenen nicht, der uns daran hindert, Dinge und Menschen in eine neue und andere Ordnung zu rücken, mit der Mensch sich nur mühsam anfreunden kann.

Ein Spiel, das unsere blinden Flecken entlarvt, von denen im Neuen Testament mehr als nur einmal die Rede ist.

Aber ich bin hier und heute nicht eingeladen, um über Splitter und Balken zu sprechen, sondern über das Ansehen der Person, das das Verb vom Schauen und Sehen in eine Betrachtung des menschlichen Status' verwandelt. Verben sind beweglich, Substantive dagegen legen sie still und gießen sie in eine statische Norm. Das Ansehen bezeichnet den Status, den wir in einer Gruppe oder Gesellschaft genießen und bildet ein beeindruckend großes Wortfeld aus: Jemand genießt Ansehen, Achtung, Autorität, Bedeutung, Ehre und Einfluss, Format und Geltung, Gewicht und Größe, Image, Leumund, Prestige und Profil, Rang und Reputation, Stellung, Würde und Amt.

All das dürfte dem Apostel Paulus alias Saulus, von einem göttlichen Licht geblendet zu Boden geworfen, kurzfristig abhanden gekommen sein, als er im Staub einer Straße Richtung Damaskus plötzlich eine Stimme vernahm, die er nicht kannte: Saul, was verfolgst du mich?  Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Steh auf und geh in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun sollst. Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen sprachlos da; denn sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemanden. Saulus aber richtete sich auf von der Erde; und als er seine Augen aufschlug, sah er nichts. Sie nahmen ihn aber bei der Hand und führten ihn nach Damaskus; und er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht. Bis er vermutlich, so kühn wie verzweifelt, ICH KOMME rief und sich auf die Suche nach einer Gemeinde machte, der er seine Frohe Botschaft verkünden wollte.

Seine Briefe sind für mich bis heute ein Geheimnis geblieben, eine Botschaft von unbekannten exotischen Orten, an denen abwechselnd mal Galater, mal Tessalonicher wohnten, gelegentlich auch Korinther und Römer oder Kolosser, Philipper und Epheser, von denen ich als Kind nicht die geringste Ahnung hatte. Wie oft habe ich in der katholischen Sonntagsmesse ihre Namen und diese Briefe gehört, ohne Ansehen derer, an die die historische Botschaft gerichtet war, die mich jetzt wie eine Stille Post auf Umwegen im Großmünster von Zürich erreicht.

Und so stehe ich jetzt hier, um, so wahr mir Gott helfe, öffentlich über einen Text zu sprechen, der mir, durch unzählige fremde Münder und Ohren gegangen, bis heute so fremd wie vertraut vorkommt. Und genau darum geht es in diesem Text: Um die Verwandlung des Vertrauten ins Fremde und des Fremden in ein anders Vertrautes.

Aktueller könnten Botschaft und Anspruch des Textes nicht sein in Tagen des ständigen Streitens darüber, wer oder was wir angeblich tatsächlich sind und ob eine Gesellschaft uns anerkennt, in der wir am Ende alle doch bloß Gäste auf Abruf sind. Denn: «Die das Ansehen hatten – was sie früher waren, daran liegt mir nichts; Gott achtet das Ansehen des Menschen nicht –, mir haben die, die das Ansehen hatten, nichts weiter auferlegt.» So steht es bei Luther, während wir in der Züricher Bibel lesen: «Von Seiten der Angesehenen aber, von denen, die etwas zu sein scheinen - was sie einst waren, spielt für mich keine Rolle, bei Gott gibt es kein Ansehen der Person ... Mir jedenfalls haben die Angesehenen nichts auferlegt.»

Während sich hoch angesehene Übersetzer bis heute über den feinen Unterschied zwischen Mensch und  Person streiten, stellt sich mir allerdings eine ganz andere Frage: Wie hat sich dieser Saulus alias Paulus - in Konkurrenz zu Petrus, dem angesehenen Fels, ein konvertierter Apostel und Missionar zweiter Klasse - dieses neue und eigene Ansehen verschafft? Ein politischer Karrieresprung erster Klasse, der unser Ansehen christlicher Gemeinschaften bis heute grundiert, einen radikalen Bruch mit den Traditionen markiert und eine entschieden neue Ordnung einläutet. Aber, weit wichtiger: Worin besteht Paulus' Ansicht von einem Gott, von dem er so kühn zu behaupten wagt, er achte das Ansehen des Menschen nicht, also weder unsere Würde, noch unser Amt, weder Image, noch   Reputation, folglich auch nicht unsere persönliche Leistung. Aber - auf was achtet er dann?

Und so stehe ich hier, so wahr mir Gott helfe, öffentlich über einen Text zu sprechen, der mir bis heute so fremd wie vertraut vorkommt.

Die Kraft der paulinischen Briefe beruht auf ihrer genialen Rhetorik und auf ihrem kühnen Behauptungscharakter, weshalb wir noch immer geneigt sind, ihm, ohne Ansehen seiner Person, unseren Glauben zu schenken. Doch die Wucht seiner Rede ist nicht leicht zu verdauen. Vermutlich sind wir deshalb bis heute in zahlreichen Sonntagspredigten damit beschäftigt, die Behauptung, dass Gott nichts von unserem Ansehen halte, zu einer möglichst schmerzlosen Herzensangelegenheit herunter zu kürzen, die für jeden von uns kompatibel ist: Gott schaue nicht auf unser Gesicht, nicht auf die Maske, sondern auf den Menschen hinter der Maske; er schaue uns also mitten ins Herz und nehme uns an, wie wir wirklich sind.

Das könnte eine so frohe Botschaft wie revolutionäre Botschaft sein; doch sie könnte auch in jedem Poesiealbum stehen. Denn sie bleibt ziemlich trivial, solange sie uns von der komplizierten Aufgabe entbindet, selbst zu praktizieren, was wir von Gott persönlich erwarten und dabei mit der einfachen Tatsache fertig zu werden, dass wir als Menschen so gleich wie verschieden sind und dass wir nicht viel voneinander wissen.

Weltliche Richter können ein Lied davon singen, wenn sie folgenden Amtseid ablegen: «Ich schwöre, das Richteramt getreu dem Gesetz auszuüben, nach bestem Wissen und Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen, so wahr mir Gott helfe.» Dass der Eid der Person, die ihre Hand auf  Gesetzbuch und Bibel legt oder schlicht und einfach bloß auf das eigene Herz, auch ohne Gottes Hilfe zu leisten ist, macht die Sache nicht einfacher. Denn wo sich der Gedanke an ein jüngstes Gericht verbietet, gerät auch das gute alte Gewissen ins Wanken, und wir müssen umso verzweifelter darum kämpfen, unser Ansehen ins rechte Licht zu rücken, indem wir jeden Tag von vorne ICH KOMME rufen.

Denn Justitia ist blind, jedenfalls, was unser überliefertes Idealbild von ihr betrifft: Auf zahlreichen uns bekannten Bildern tritt sie uns mit einer Augenbinde entgegen, die uns daran erinnern soll, dass sie weder auf die Person, noch den Menschen schaut, sondern einzig auf «unsere Sache». Aber ist sie tatsächlich berufen, weiß sie wirklich, von welcher Gerechtigkeit und Wahrheit sie spricht, wenn sie, ohne Ansehen unserer Person, in der Hand die berühmt berüchtigte Waage hält, auf der nur der kleinste Teil unserer Anliegen liegt?

Reservationen sind allerdings nicht möglich: weder durch gesteigerte Frömmigkeit, noch durch gute Werke und Worte, vermutlich nicht einmal durch ein gutes Herz und durch ein schlechtes Gewissen schon gar nicht.

Dürfte ich einen Brief an die Galater schreiben, er würde lauten wie folgt: Schwestern und Brüder nach Petrus und Paulus: Gestern habe ich unter der Maske des Saulus eine Kanzelrede im Großmünster zu Zürich gehalten. Dabei habe ich das Wichtigste, wie immer, vergessen: Gott ist nicht blind, sondern sitzt vermutlich zwischen Splitter und Balken an einem frisch gezimmerten runden Tisch, der kein Kopf- und kein Fußende hat. An einem Tisch, an dem Platz für uns alle ist.

Reservationen sind allerdings nicht möglich: weder durch gesteigerte Frömmigkeit, noch durch gute Werke und Worte, vermutlich nicht einmal durch ein gutes Herz und durch ein schlechtes Gewissen schon gar nicht. Doch, mit etwas Glück, wird man mich dort nicht zwischen Petrus und Paulus platzieren, sondern zwischen den Galatern und den Korinthern, weil Gott nicht auf unsere Justitia schaut, sondern einzig auf den so kleinen wie hungrigen Rest, der bis heute ungesättigt geblieben ist und jeden Sonntag von vorn danach verlangt, endlich gefunden, gesehen und gefüttert zu werden.

Ein so schlichtes wie einfaches Abendmahl, ein so lautes wie fröhliches KOMMET HER ZU MIR ALLE. In anderen Worten jene Eucharistie, die nicht mehr und nicht weniger ist, als der uralte Versuch, jenseits von Splitter und Balken eine Gemeinschaft ohne Ansehen der Person zu pflegen, von der der übrigens durchaus nicht alle träumen, denn Utopien sind nicht jedermanns Sache.  Doch die Korinther können ein Lied davon singen: «Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich ganz erkennen, wie ich auch ganz erkannt wurde.» Aber erst dann, wenn die Liebe endlich bis zehn gezählt hat, um von Angesicht zu Angesicht laut ICH KOMME  zu rufen.

Felicitas Hoppe

Felicitas Hoppe

Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe lebt und schreibt in Berlin und Leuk. 2012 wurde sie mit dem renommierten Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet, drei Jahre später erhielt sie den Erich-Kästner-Preis für Literatur. Am Sonntag, 23. August, predigte Felicitas Hoppe auf Einladung von Pfarrer Martin Rüsch im Grossmünster in Zürich. Am 23. Oktober wird Hoppe im Rahmen von «Zürich liest» in der Krypta des Grossmünsters lesen. Zuletzt wurde Hoppe mit dem Grossen Preis des Deutschen Literaturfonds geehrt, der erstmals verliehen wurde. Die Preisverleihung findet am 7. Oktober in Berlin statt.