Als Kinder versteckten wir uns gern in paradiesischen Gärten, in denen, der uralten Spielregel folgend, eines von uns, die Stirn mit fest zugehaltenen Augen gegen einen Baumstamm gedrückt, langsam und feierlich bis zehn zählen musste, um schließlich laut ICH KOMME zu rufen. Wir anderen suchten nach einem Versteck, hielten den Atem an und duckten uns weg. Der Zauber des alten Versteckspiels ist groß; doch jenseits des fröhlichen Wettbewerbs kennt jedes Kind dieses Schwanken zwischen dem Wunsch, möglichst lange in Deckung zu bleiben und dem Unglück, für immer sitzenzubleiben; weil das Glück des Verbergens nur dem weit größeren Glück vorausgehen will, nicht nur tatsächlich, sondern auch wirklich gefunden zu werden. In anderen Worten: gerufen, erkannt und geliebt zu werden, als der oder die oder das, was man ist.
Dafür muss man gar nicht die Bibel bemühen. Jedes Märchen legt Zeugnis davon ab, dass sich der Mensch, sei es aus Ehrgeiz oder aus nackter Not, zwar permanent versteckt und verwandelt und dabei zahlreiche Metamorphosen durchläuft, schließlich und endlich aber von Erlösung durch die letzte große Verwandlung träumt, von seiner wahren Gestalt, die er selbst noch nicht kennt. Denn der Mensch ist nun mal darauf angewiesen, dass man ihn wahrnimmt, dass man ihn sieht. Auf das Ansehen der Person kommt es an.
Allerdings kommen Mensch und Person nicht notwendig zur Deckung: Im Altgriechischen meint die Person das, «was man sehen kann», das Gesicht oder die sichtbare Gestalt des Menschen. Eine andere Ableitung verweist auf das Gesicht als Maske, hinter der sich verbirgt, was wir angeblich sind. Jeder von uns kennt die uralte Angst, plötzlich sein Gesicht zu verlieren und sein wahres Gesicht zu zeigen.
Ansehen ist eine so einfache, wie komplizierte Vokabel. Das Verb meint nichts anderes als hinschauen, wahrnehmen, also etwas zur Kenntnis und in Augenschein nehmen und, im besten Fall, zu betrachten. Doch mit jedem Ansehen, mit jeder Betrachtung geht, bewusst oder unbewusst, eine Zuordnung einher, die sich von einer Bewertung der Wahrnehmung nicht trennen lässt. Wer hinschaut und sieht, ordnet ein, ob er will oder nicht. Er gleicht Bekanntes mit Unbekanntem ab, Unvertrautes mir scheinbar Vertrautem, und bildet dabei ein Vorurteil aus.
Ein anderes Kinder- und Rätselspiel - Ich sehe was, was du nicht siehst! - veranschaulicht auf schöne Weise, dass es beim Sehen auf Perspektive und Fokus ankommt. Ein Spiel, das unsere blinden Flecken entlarvt, von denen im Neuen Testament mehr als nur einmal die Rede ist: Wir sehen den Splitter im Auge des anderen, aber den Balken im eigenen nicht, der uns daran hindert, Dinge und Menschen in eine neue und andere Ordnung zu rücken, mit der Mensch sich nur mühsam anfreunden kann.