«Kraft meiner Erzählung kann ich die Verhältnisse umkehren»

Literatur

Im Gespräch mit «reformiert.» spricht Schriftstellerin Felicitas Hoppe über Verkündigung und Literatur, die Bibel als Inspiration und das Leben, das beim Schreiben entsteht.

Am 23. August standen Sie auf der Kanzel im Zürcher Grossmünster. Ist Literatur Verkündigung oder ihr Gegenteil?

Felicitas Hoppe: Ich würde nicht sagen, dass Literatur Verkündigung ist. Aber ich glaube, dass Literatur eine Auseinandersetzung mit dem Wort ist und damit eine Gemeinsamkeit hat mit der Verkündigung. Sprache ist immer ambivalent. Das gilt für das literarische Wort genauso wie für das göttliche Wort in der Bibel. Ich merke je länger je mehr, wie sehr mein eigenes Schreiben von biblischen Erzählungen geprägt ist. Oder mehr noch von biblischen Bildern, da ich in der katholischen Tradition aufgewachsen bin. Doch mein Zugang zur Bibel ist eben literarisch, nicht verkündigend.

Können Sie diese Differenz näher beschreiben?

Ich bin skeptisch und reagiere manchmal auch gereizt, wenn die Theologie die Literatur für sich vereinnahmt. Wenn ein literarischer Text religiöse Motive aufgreift – und das tun sehr viele Texte –, bedeutet das noch lange nicht, dass es sich um einen religiösen Text handelt. Es ist ein riesiger Unterschied, ob ich sage: «Das ist das Wort Gottes» oder: «Das ist das Wort von Felicitas Hoppe». Natürlich kann ich biblische Texte literarisch lesen, aber ich finde, man sollte sie zugleich ernst nehmen als religiöse Texte, die einen Offenbarungsanspruch haben und auf Gott ausgerichtet sind.

Das göttliche Wort will etwas bewirken. Spielt der Begriff der Verwandlung in Ihrem Schreiben eine Rolle?

Das mit Sicherheit. Die erste Verwandlung nehme ich bereits vor, wenn ich schreibe. Sprache ist nicht Wirklichkeit. Sobald ich also etwas verschriftliche, verwandle ich die Welt. Bei mir ist es so, dass ich mit der Welt, wie ich sie erlebe, nicht unbedingt einverstanden bin. Das Schreiben ist für mich deshalb eine Möglichkeit, die Welt zu transformieren, so wie es zum Beispiel im Märchen passiert. Die Probleme, die dort verhandelt werden, sind ganz real: Die Menschen haben keine Kinder oder sie müssen durch den dunklen Wald. Doch dann kommen die Wünsche der Menschen ins Spiel, es geschieht ein Wunder, und das Märchen findet ein gutes Ende. Die Erzähler beziehen sich auf die Welt, doch sie erzählen sie anders, als sie ist.

Das Nicht-Einverstanden-Sein mit der Welt ist auch ein biblisches Motiv, wenn ich an die Gleichnisse Jesu denke. Jesus spricht von dieser Welt und zugleich nicht von dieser Welt.

Ganz genau. Auch deshalb glaube ich, dass ich davon ganz stark grundiert bin: Kraft meiner Erzählung kann ich die Verhältnisse umkehren.

Ich bin skeptisch und reagiere manchmal auch gereizt, wenn die Theologie die Literatur für sich vereinnahmt.

Spielt die Verwandlung auch beim Lesen eine Rolle? Soll etwas passieren mit mir, wenn ich Ihre Texte lese?

Ich kann es zwar nicht beeinflussen, aber natürlich ist es meine Hoffnung, dass Leserinnen und Leser durch meine Texte auf andere, neue Gedanken kommen und erkennen, dass die Welt auch anders sein könnte. Meine Texte enthalten jedoch keine konkreten Handlungsanweisungen, sonst hätte ich politische Aktivistin werden müssen. Ich habe mich für die Literatur entschieden, weil sie meinem Blick auf die Welt entspricht. Ich halte die Menschen und die Welt für hochkomplex und glaube nicht an einfache Rezepte.

Wenn ich mich ständig fragen müsste, was die Dichterin eigentlich sagen will, würde das Lesen ziemlich anstrengend.

Exakt. Aber das gilt ja auch für die Gleichnisse, die nur auf den ersten Blick eine eindeutige Aussage enthalten. Sie lassen sich nicht einfach entschlüsseln oder übersetzen. Und das ist unser grosses Glück. Denn was würden wir sonst sonntags in der Kirche machen? Wenn wir genau wüssten, welches Rezept uns Jesus in die Hand drückt, müssten wir stattdessen auf der Strasse demonstrieren. Doch wir sind immer noch daran, uns mit diesen Gleichnissen auseinanderzusetzen, uns ermutigen und irritieren zu lassen. Das macht ja auch gute Literatur aus, dass wir nicht fertig werden mit ihr.

Haben Sie eine Lieblingsstelle in der Bibel?

Sehr gerne mag ich die berühmte Stelle in der Erzählung von Jesus und der Ehebrecherin. Diese wunderbare Klarheit in der Unklarheit: «Wer unter euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie!» (Johannes 8,7). Jesus weiss es doch auch nicht. Deshalb dreht er sich ab und schreibt in den Sand. Wahrscheinlich wollte er nur Zeit schinden. Dieses Exerzitium, das eine Denkbewegung in Gang setzt, ohne eine schnelle Antwort zu wissen, das ist Literatur.

Die Gleichnisse Jesu lassen sich nicht einfach entschlüsseln oder übersetzen. Und das ist unser grosses Glück.

Sie haben mit «Hoppe» eine Traumbiografie geschrieben. Kann Literatur ein Leben erfinden oder basiert sie auf Erfahrung?

Ich glaube nicht daran, dass ich etwas Spektakuläres erlebt haben muss, um gute Literatur zu machen. Es geht sogar umgekehrt: Dass im Schreiben plötzlich dieses eigene Leben entsteht. Es gibt also eine Gleichwertigkeit zwischen dem, was dort geschrieben steht, und dem, was das Leben selber ist. Viele Biografien beruhen doch auf diesem Prinzip: Das Leben entsteht, indem man es beschreibt.

Ist dann das überhaupt noch das eigene Leben?

Ich glaube schon und darüber erschrickt man beim Schreiben ein wenig. Ich wusste beim Schreiben nicht, wie meine Geschichte ausgehen würde. Und wenn ich heute das Buch lese, denke ich tatsächlich, das sei mein Leben. In der Politik ist die Trennung zwischen Realität und Fiktion wichtig, das wissen wir im Zeitalter von Fake News. Aber Literatur funktioniert anders.

Im Grossmünster predigen Sie über eine Stelle im Galaterbrief. Mögen Sie Paulus?

Mögen ist eine schwierige Kategorie. Ich würde jetzt auch nicht sagen, ich mag Jesus. Paulus ist für mich eine extrem ambivalente Figur. Die Stelle aus Galater 2 wurde mir zugewiesen. Darauf lasse ich mich gerne ein, aber ich hätte sie mir selbst jetzt nicht ausgesucht.

Warum nicht?

Weil ich sie spröde finde. Vers 2,6 gibt der Kanzelrede den Titel: «Ohne Ansehen der Person.» Darüber lässt sich viel sagen. Aber wenn man sich anschaut, in welchem Kontext der Satz steht und von den Beschnittenen und Unbeschnittenen liest, erkennt man, in welchem knallharten Konkurrenzkampf die Christengemeinde steht, die da am Entstehen ist. Es geht darum, wer was darf und wer die Nase vorne hat. Das kontrastiert dann mit dem Bild von einem Gott, der nicht auf das Ansehen einer Person schaut. Paulus ist ein brillanter Rhetoriker, aber besonders sympathisch kommt er mir da nicht entgegen.

Wenn ich heute mein Buch lese, denke ich tatsächlich, das sei mein Leben.

Wir sprachen über den Begriff der Verwandlung, der ist bei Paulus auch zentral. Paulus war Konvertit.

Die Konversion hat mich schon immer beschäftigt. Wenn ich als Katholikin zur evangelischen Kirche konvertieren würde, könnte ich professionell Kanzelreden halten. Aber irgendwie geht das nicht.

Weshalb?

Mein Gefühl ist, dass die Imprägnierung durch die Religion sehr stark ist. Das, was man durch die Konversion eigentlich los werden will, nimmt man mit. Im Wunsch, ein anderer zu werden, steckt zudem eine grosse Verkrampfung. Deshalb glaube ich auch, dass dieser Behauptungscharakter bei Paulus so stark ist und eng mit seiner Bekehrung zusammenhängt. Bekehrte sind oft radikaler als Naturgewächse.

Was gehört denn zu Ihrer katholischen Identität?

Meine Eltern kommen aus Schlesien, aber ich bin in Niedersachsen aufgewachsen. Ich lebte also in der Diaspora. Wir waren eine absolute Minderheit, so ein bisschen die schrägen Vögel. Ganz anders ist es hier im Wallis, wo ich seit 15 Jahren regelmässig herkomme. Das ist jetzt wirklich katholisch grundiert und die Tradition wirkt immer noch stark. Manche meiner Walliser Freunde tun sich ein wenig schwer damit, dass ich hier sonntags in die Kirche gehe. Sie haben ein sehr gespaltenes Verhältnis zum Katholizismus.

Weil der Katholizismus einfach zu präsent ist?

Zumindest ist er das einmal gewesen. Viele Leute, die ich hier im Wallis kennengelernt habe, fühlten sich früher zu Recht von der Kirche geknechtet. Diese Knechtung habe ich zuhause nie erlebt.

Sondern?

Mit dem Katholizismus verbinde ich eine reiche Erzähltradition, die stark mündlich geprägt und bildhaft ist. Als Kind habe ich im Gottesdienst Texte gehört, ohne sie zu verstehen. Oder auch zuletzt, als ich an Maria Himmelfahrt in der Kirche war und diese Marienlieder gesungen habe. Eigentlich verrückt, was man da singt. Aber schön. Da sind schon so magische Wurmfortsätze drin. Das prägt mein Empfinden und mein Erzählen bis heute.

Bekehrte sind oft radikaler als Naturgewächse.

Inwiefern ist die Bibel eine Inspirationsquelle für Ihr literarisches Schreiben?

Die Bibel ist eine Inspirationsquelle für eigentlich alles. Und als Schriftstellerin erblasst man vor Neid. Das geht mir aber auch so, wenn ich Märchen oder einfache Legenden lese: Diese Kombination aus sprachlicher Präzision und Doppeldeutigkeit finde ich in der zeitgenössischen Literatur kaum.

Denken Sie an einen speziellen Text?

Die Bibel kann man irgendwo aufschlagen, und man kommt auf seine Kosten. Man fühlt sich angesprochen, ist irritiert oder wird provoziert. Oder man lernt damit umzugehen, dass man nichts versteht. Etwas passiert immer. Besonders faszinierend finde ich die Gleichnisse.

Beziehen Sie sich in Ihren Büchern bewusst auf biblische Texte?

Da sind wir wieder bei der Ausgangsfrage nach Literatur und Verkündigung. Ich glaube, man kann Texte nicht von ihrer ursprünglichen Mission trennen. Es gibt Autoren, die schreiben moderne Märchen. Da sind schöne Ergebnisse dabei, aber dennoch merken wir beim Lesen, dass da irgendetwas nicht stimmt. Denn die Welt, auf die sich die Märchen beziehen, gibt es nicht mehr. Deshalb glaube ich nicht, dass man Gleichnisse imitieren sollte.

Imitieren nicht, aber sich darauf beziehen?

Das mit Sicherheit. Vielleicht ist es dann eher der zweifelnde Thomas. Das ist auch so eine schöne Figur, der man nachgehen kann. Ohnehin treffen wir in der Bibel nicht auf wasserdichte Gläubige. Wir lesen ständig von Gestalten, die vom Zweifel geplagt sind. Davon kann man sich schon inspirieren lassen.

Den Anspruch, dass alle meine intertextuellen Bezüge verstanden werden, halte ich eher für gefährlich.

Legen Sie bewusst biblische Spuren?

Nein. Oft kommen die biblischen Geschichten durch die Hintertür in meine Erzählungen. Dann merke ich, dass sie ganz selbstverständlich zu meinem Fundus gehören.

Und machen Sie sich da Gedanken, ob diese Anspielungen überhaupt noch verstanden werden?

Das fehlende Bibelwissen ist natürlich ein Riesenproblem. 1999 habe ich ein Buch geschrieben über eine Fahrt auf einem Containerschiff. Da beschreibe ich eine Sicherheitsübung und gehe nahtlos über in die Beschreibung der Arche Noah. Weil ich die Passage witzig finde, lese ich sie oft an Lesungen. An den Lachern merke ich dann, wie vielen Menschen der Text, auf den ich mich beziehe, überhaupt noch zur Verfügung steht.

Es lachen nicht mehr viele?

Wenn ich ein jüngeres Publikum habe, können viele die Pointe nicht auflösen. Aber trotzdem würde ich mir vorher nie überlegen, ob das noch jemand versteht. Vielmehr hoffe ich, dass die alten Geschichten in anderen Kontexten eine neue Dynamik entwickeln und man die Traditionen weitergibt wie eine Flaschenpost. Man weiss nie, wo das landet.

Und wenn sie nirgends ankommt?

Sie landet immer irgendwo, ich weiss einfach nicht, wer sie öffnet. Vieles aus der Tradition verstehen wir heute nicht mehr, aber es kommt uns irgendwie bekannt vor. Damit kann ich auch spielen. Oder um den Begriff der Verwandlung nochmals aufzunehmen: Vielleicht verwandeln sich die alten Motive, indem wir sie fortschreiben. Ich bin da nicht so pessimistisch.

Ihre Bücher kann auch mit Genuss lesen, wer die Bibel nicht kennt?

Natürlich. Wenn ich die biblischen Begriffe oder Motive erkenne und nachzähle, die ein Schriftsteller aufgreift, ist noch nichts gewonnen. Wir sollten die Bibel nicht unter Naturschutz stellen. Es bringt nichts, wenn ich mich darüber beklage, dass eine biblische Figur oder ein Goethe-Zitat nicht mehr erkannt wird. Den Anspruch, dass alle meine intertextuellen Bezüge verstanden werden, halte ich eher für gefährlich. Er macht die Sprache weniger lebendig.

Felicitas Hoppe (59)

Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe lebt und schreibt in Berlin und Leuk. 2012 wurde sie mit dem renommierten Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet, drei Jahre später erhielt sie den Erich-Kästner-Preis für Literatur. Am Sonntag, 23. August, war Felicitas Hoppe auf Einladung von Pfarrer Martin Rüsch im Grossmünster in Zürich zu Gast. Ihre Predigt lesen Sie hier. Am 23. Oktober wird Hoppe im Rahmen von «Zürich liest» in der Krypta des Grossmünsters lesen. Zuletzt wurde Hoppe mit dem Grossen Preis des Deutschen Literaturfonds geehrt, der erstmals verliehen wurde. Die Preisverleihung findet am 7. Oktober in Berlin statt.