Nach dem Krieg das Erdbeben

Nothilfe

Schon vor dem Erdbeben lebten viele Menschen in Nordsyrien zwischen Trümmern. Die Katastrophe hat die Lage noch verschlimmert. Kirchen helfen unkompliziert und schnell.

Von einem Wiederaufbau nach dem Krieg war Syrien weit entfernt. Die Erdbeben, die das Grenzgebiet zur Türkei vor gut einem Monat erschütterten, haben die Situation nun zusätzlich verschärft. «Die Lage der Zivilbevölkerung war bereits davor katastrophal», sagt Marina Dölker, Programmbeauftragte für kirchliche Zusammenarbeit beim Hilfswerk der evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (Heks). Laut einer Studie der Vereinten Nationen sind 70 Prozent der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen, freilich wurde dieser Bericht noch vor der jüngsten Katastrophe publiziert.

Alte Gebäude bieten Schutz

Der miserable Zustand vieler Häuser spiele bei der Höhe der Opferzahlen «eine sehr grosse Rolle», sagt Dölker. Bisher wurden 5900 Tote gemeldet, die tatsächliche Zahl dürfte weit höher liegen. 

Eher standhalten konnten dem Erdbeben historische Gebäude. Moscheen und Kirchen dienen nun als Schutzräume. So haben die armenisch- und arabischsprachigen protestantischen Kirchen in Kirchengebäuden und Schulen Schlafplätze eingerichtet und versorgen Bedürftige mit Essen und Hygieneartikeln. 

In Aleppo behandeln zwei kirchlich betriebene Krankenstationen die Menschen kostenlos. Die Regierungstruppen hatten die einstige Rebellenhochburg im Dezember 2016 mit massiver Unterstützung der russischen Luftwaffe nach jahrelangen Kämpfen eingenommen. Weite Teile der Stadt lagen bereits vor dem Beben in Trümmern.

Die Angst der Banken

Inzwischen können Spenden für Nordsyrien rascher eingesetzt werden. Zuvor hatten die harten Sanktionen den Geldtransfer erschwert.

Fatale Korruption

Am 6. Februar erschütterten mehrere Erdbeben das türkisch-syrische Grenzgebiet. In der Türkei wurden elf Grossstädte weitgehend zerstört, mindestens 50 000 Menschen starben, Millionen von Einwohnerinnen und Einwohnern verloren ihr Zuhause. Dass das Beben derart verheerende Folgen hatte, wird auch auf Nachlässigkeiten der Behörden und die Korruption im Bauwesen zurückgeführt. Der türkische Staat reagierte nun mit einer Verhaftungswelle, fast 1000 Personen stehen im Verdacht, für Baumängel verantwortlich zu sein.

In Syrien kommen zur Naturkatastrophe bewaffnete Auseinandersetzungen hinzu. Zwölf Jahre nach dem Bürgerkrieg, der nach Protesten der Demokratiebewegung gegen Machthaber Baschar al-Assad ausbrach, bleibt die Sicherheitslage labil. So griff die türkische Armee nach dem Erd­beben Ziele in kurdisch kontrollierten Gebieten an. Einem Anschlag der Terrormiliz Islamischer Staat fielen Mitte Februar an einem Checkpoint der Regierung in Al-Suchna rund 70 Menschen zum Opfer. Am 19. Feb­ruar starben fünf Menschen, als eine israelische Rakete, deren Ziel wohl iranische Einrichtungen waren, in ein Gebäude in Damaskus einschlug.

Aus Angst vor Strafmassnahmen durch die US-Behörden hätten viele Banken die Sanktionen zudem «übererfüllt», sagt Dölker. Überweisungen wurden ganz abgelehnt oder durch Auflagen verzögert, obwohl Transfers für humanitäre Zwecke eigentlich immer erlaubt waren. Nach dem Erdbeben hat die amerikanische Finanzaufsicht die Vorschriften gelockert.

Drei Millionen Franken gab Heks inzwischen für Nothilfe und Wiederaufbau frei. Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz lancierte einen Spendenaufruf. Unter anderem werden damit beschädigte Bäckereien in Aleppo, Hama, Tartous und Latakia produktionsfähig gemacht. Zudem geben die Kirchen vor Ort Bargeld ab. 

Glaubwürdig und vernetzt

Diese Form der Nothilfe sei sehr effizient, weil die Bedürfnisse der betroffenen Menschen unterschiedlich seien, sagt Dölker. «Eine Familie braucht das Geld etwa für Nahrung, eine andere Person kauft ein Busticket und findet bei Verwandten Unterschlupf.» Ausgewählt werden die Begünstigten strikt nach humanitären Kriterien, religiöse oder ethnische Faktoren spielen keine Rolle. «Die Kirchen sind in ihren Nachbarschaften gut vernetzt und verfügen auch in der muslimischen Bevölkerung über eine hohe Glaubwürdigkeit», betont Dölker.

Protestantische Solidarität

2018 hat Heks die kirchliche Zusammenarbeit auf den Libanon und Syrien ausgeweitet. Weiterhin bestehen die Partnerschaften mit reformierten Kirchen in Ungarn, der Slowakei, der Ukraine, Rumänien und Serbien und mit der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder in Tschechien sowie der Waldenserkirche in Italien.

Neben der Nothilfe will Heks auch den Wiederaufbau unterstützen. Allerdings bleiben dabei die Sanktionen ein Hindernis. «Das Sanktionsregime hat Syrien nicht in die Lage gebracht, in der das Land steckt, aber es verhindert, dass es sich daraus befreit», sagt Emmanuel Tronc im Videogespräch mit «reformiert.». Er koordiniert von Damaskus aus im Auftrag von Heks die humanitäre Hilfe. Wasserversorgung und Elektrizitätsnetze seien in einem «desaströsen Zustand».

Sanktionen hinterfragen

Viele Experten gehen davon aus, dass die Sanktionen die Regierung eher stärken. Präsident Assad kann die Schuld für den ausbleibenden Wiederaufbau auf die Sanktionen schieben, und die Wirtschaftselite in seinem Dunstkreis vermag die Strafmassnahmen leicht zu umgehen.

Die von Krieg und Erdbeben gebeutelte Bevölkerung hingegen leidet. Denn die Sanktionen verbieten weiterhin Investitionen in die Infrastruktur. «Wenn zwar ein Spital gebaut werden darf, es dann aber nicht an ein stabiles Stromnetz angeschlossen werden kann, bringt das wenig», sagt Tronc. Es sei nun an der Zeit, die Sanktionen «aus humanitärer Perspektive zu überprüfen» und die Frage zu beantworten, ob damit wirklich die Ziele erreicht würden, die sich die Staatengemeinschaft gesetzt habe.