«Wir haben all unsere Hoffnungen verloren»

Literatur

Rund 90 Prozent der Menschen in Syrien sind abhängig vom Geld, das ihnen Verwandte aus dem Ausland senden. Der Schriftsteller Khaled Khalifa über seine krisengeschüttelte Heimat.

In wenigen Tagen kehren Sie von Ihrem halbjährigen Literaten-Aufenthalt in Zürich nach Syrien zurück. Worauf freuen Sie sich?

Khaled Khalifa: Auf die Menschen, meine Freunde, meine vielen Verwandten, mein Bett und meine Wohnung. Ich freue mich darauf, kein Heimweh mehr zu spüren.

Über 5,5 Millionen Syrerinnen und Syrer haben wegen Krieg und Diktatur ihre Heimat verlassen. Wieso leben Sie weiterhin in Damaskus?

Syrien, das ist meine Heimat, mein Land, mein Zuhause – nichts wird das jemals ersetzen können. Meine Familie stammt aus dem Norden von Syrien. Dort sind meine Vorfahren begraben, und dort will auch ich begraben werden.

In Ihren Büchern kritisieren Sie Politik und Regime scharf. Fühlen Sie sich in Syrien sicher?

Hätte ich Angst, müsste ich Syrien verlassen. Ich mische mich nicht in die Politik ein, bin und war immer unpolitisch. Für das Regime bin ich somit uninteressant. Seit Kriegsausbruch vor zwölf Jahren haben die Machthaber andere Sorgen als einen Schriftsteller wie mich.

Ihre Bücher sind in Ihrer syrischen Heimat aber verboten.

Trotzdem werden sie gelesen. Heute ist ja fast alles online frei zugänglich. Die Leute laden die Bücher im Internet herunter oder erwerben sie im Libanon. Eigentlich ein Witz. Es ist vergleichbar mit Cannabis: Offiziell ist es verboten, konsumieren tun es trotzdem alle. Aber natürlich träume ich davon, dass meine Bücher eines Tages in den syrischen Buchhandlungen erhältlich sind. Denn das würde bedeuten, dass die Leute in Syrien in Freiheit leben.

Wie muss man sich Ihren Alltag in Damaskus vorstellen?

Es mangelt an Essen, Benzin, Öl. Strom gibt es oft nur ein paar Stunden am Tag. Zudem herrscht Inflation, die Preise steigen, und die Leute haben praktisch kein Geld. Rund 90 Prozent aller Menschen leben in Armut und sind abhängig vom Geld, das Verwandte aus dem Ausland schicken. Mir geht es vergleichsweise gut. Ich brauche nicht viel zum Leben, weil ich weder Frau noch Kinder habe.

Wie hat sich Ihr Leben in den letzten Jahren verändert?

Wir haben alles verloren – vor allem unsere Hoffnungen und Ideale.

Khaled Khalifa

Der syrische Autor lebt in Damaskus. Er zählt zu den bedeutendsten ara­bischen Schriftstellern der Gegenwart. Im Rowohlt-Verlag erschienen die Romane «Der Tod ist ein mühseliges Geschäft», «Keine Messer in den Küchen dieser Stadt» und «Keiner betete an ihren Gräbern». Jüngst war Khaled Khalifa (59) auf Einladung des Zürcher Literaturhauses zu Gast in Zürich.

Neben Krieg und Inflation herrscht in Syrien eine Hungersnot. Im Februar wurde das Land auch noch von einem verheerenden Erdbeben heimgesucht.

Vor ein paar Jahren dachten wir, noch schlimmer könne es nicht mehr kommen. Nun fragen wir uns: Was kommt als Nächstes? Manche fragen sich sogar, ob es uns damals, als «nur» Krieg herrschte, nicht besser ging als heute.

Als vor vier Monaten die Erde bebte, waren Sie in der Schweiz. Wie erlebten Sie die Katastrophe?

Es war zum Verzweifeln, alles nur von fern zu verfolgen. Die Bilder der Menschen, die in den Strassen von Aleppo Schutz vor dem Beben suchten, weckten in mir Bilder vom Jüngsten Gericht: Wartende Menschen auf dem Weg zu Hölle und Paradies, zwischen Diesseits und Jenseits. Dabei wird das syrische Volk seinem Schicksal überlassen. Niemand hilft. Nicht einmal die Leichentücher haben die Verbrecher, die mit Hilfslieferungen handeln, ihnen gelassen. Ein Volk, frei von Sünde, das auf seinem Weg zum Jüngsten Gericht sein Kreuz trägt.

Der syrische Präsident Assad wusste das Erdbeben für sich zu nutzen. Er ist auf das politische Parkett im arabischen Raum zurückgekehrt. Was bedeutet das für die Zukunft der Syrerinnen und Syrer?

Ob Syrien in die Arabische Liga zurückgekehrt ist oder nicht, spielt für das Volk keine Rolle. Die Arabische Liga hat in meinen Augen weder Ziele noch Werte. Wir sind seit zwölf Jahren von der Welt vergessen. Niemand hat uns geholfen. Das wird sich jetzt nicht ändern.

In Ihrem Buch «Keiner betete an ihren Gräbern» schreiben Sie von der religiösen Vielfalt in Syrien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Wie steht es um die heutige Religionsvielfalt in Ihrem Land?

Als Kind hatte ich christliche und jüdische Freunde. Das war damals normal. Doch die Situation hat sich drastisch verändert. Jüdische Menschen sind alle ausgewandert. Zudem hat sich seit 2011 unsere Gesellschaft massgeblich verändert: Viele Christen etwa haben das Land verlassen. Diesbezüglich spielen die europäischen Länder eine wichtige Rolle. Syrische Christen erhalten für Europa schneller ein Flüchtlingsvisum als Muslime.

Sie selbst sind Muslim. Wie haben Sie es mit der Religion?

Ich stamme aus einer muslimischen Familie, bin aber unreligiös. Den Religionen und religiösen Menschen begegne ich mit Respekt. Nicht aber Extremisten, die Terror ausüben oder rechtfertigen.

Abgeschoben und vergessen

Die Mehrheit der Syrer flüchtete in die Nachbarländer: Im Libanon leben rund 850 000 Flüchtlinge, in der Türkei sind es etwa 3,6 Millionen. Eine si­chere Rückkehr dieser Menschen unter Baschar al-Assad sei nicht möglich, lautet die Einschätzung vieler Fachleute. So hat die Organisation Human Rights Watch Hunderte von unrecht­mäs­sigen Abschiebungen von Syrern in ihre Heimat dokumentiert. Meist verschwinden diese Personen vom Radar.

Die meisten Menschen sind vor der Herrschaft Assads geflohen, dieser will sie gar nicht im Land haben. Im arabischen Raum wird mit Assad verhandelt, aber die UNO sagt: keine Rück­kehr der Geflüchteten und kein Wiederaufbau ohne Machtübergabe.

Im Buch «Der Tod ist ein mühseliges Geschäft» schreiben Sie von der syrischen Gegenwart, dem Krieg, den Checkpoints. Erst wollten Sie nicht über die Aktualität schreiben, warum dieser Sinneswandel?

Ich musste zuerst Distanz herstellen. 2013 hatte ich einen Schlaganfall. Ich lag in der Notaufnahme und fragte mich: Wenn ich jetzt sterbe, wie gelangt mein Leichnam von Damaskus in mein Dorf im Norden Syriens? Vor dem Krieg dauerte die Autofahrt dorthin vier Stunden. Mit den vielen Checkpoints, die im Krieg zu passieren sind, verlängerte sich die Reise um mehrere Tage. Die Geschichte meines Protagonisten Bulbul trug ich schon länger mit mir herum. Durch meinen Schlaganfall fand ich den Kontext zu dieser Figur, das Buch habe ich innert weniger Wochen geschrieben.

Wie haben Sie die Schweiz während Ihres Aufenthalts hier erlebt?

Es ist alles sehr komfortabel hier. Mir gegenüber sind alle wahnsinnig hilfsbereit und freundlich. Irgendwie lustig, dass ich mich in Zürich derart wohlgefühlt habe. Denn Zürich ist ja die Stadt der Finanzinstitute, ich selbst weiss überhaupt nicht mit Geld umzugehen. Trotz unserer unterschiedlichen Charaktere haben wir uns angefreundet. In Zürich war ich sofort äusserst produktiv. Jeden Tag habe ich viel geschrieben und gemalt. Ich konnte mich ganz meiner Kunst widmen. Das war wunderbar.

Die Schweiz ist ein säkularer, föderalistischer Staat. Ein erspriessliches Umfeld für die Religionen?

Die Schweiz ist ein gutes Beispiel für das Zusammenleben der Religionen. Wahre Koexistenz funktioniert nur, wenn alle Menschen in einem Land vor dem Gesetz gleich sind und danach leben. Das habe ich hier erlebt. Die Schweiz hat in meinen Augen eine der besten Verfassungen dieser Welt.