Recherche 16. November 2019, von Delf Bucher

Syrischer Pfarrer trauert Amerikanern nicht nach

Krieg

Ganz unterschiedlich schätzen die Christen in Nordsyrien ihre Lage und ihr Verhältnis zu der kurdischen Autonomiebehörde ein.

9. Oktober in der nordsyrischen Stadt Qamishli: Geländewagen mit aufmontierten Maschinengewehren und US-Flaggen fahren durch die Ausfallstrassen der nordsyrischen Stadt. Auf die gepanzerten Vehikel prasseln Kartoffeln. Eine aufgebrachte Menge ruft immer wieder: «Verrat! Verrat!»

Der assyrische Christ Kino Gabriel nimmt die US-Soldaten, die sich auf Trumps Order hin zurückziehen, in Schutz: «Die amerikanischen Soldaten sind wie wir geschockt über diesen politischen Entscheid», sagt der Sprecher der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), einer Armee, in der die kurdischen Volkseinheiten (YPG) an der Seite von  Christen kämpfen. 11 000 Soldatinnen und Soldaten des SDF starben bei der Befreiung der von IS-Jihadisten besetzten syrischen Territorien. Nun kommen sie wieder: Jihadisten verschiedenster Couleur, die unter dem Schutz der türkischen Armee stehen. 

Vorbild sein

Die türkische Präsenz wühlt auch den evangelischen Pfarrer Firas Farah auf: «Nun werden die aramäischen und armenischen Christen nach dem Völkermord von 1915 wieder von den Türken attackiert.» Der Pfarrer aus Qamishli denkt dennoch keine Minute daran, die Koffer zu packen: «Als Pfarrer muss ich meiner Gemeinde ein Vorbild sein», sagt er am Telefon. Was überrascht: Im Gegensatz zu dem aramäischen Christen Gabriel kann der protestantische Pastor dem US-amerikanischen Abzug in seiner Heimatstadt durchaus etwas Positives abgewinnen: «Um uns haben sich die Amerikaner nie gekümmert.» Und auf die kurdische Autonomiebehörde ist er auch schlecht zu sprechen. «So wie Erdogan die Kurden türkisieren will, wollen sie uns kurdisieren.» Farah berichtet über Konflikte mit der christlichen Schule seiner Gemeinde. In der von Heks unterstützten Bildungsstätte wollten die Kurden vom Lehrplan bis zu den Schulbüchern hineinreden. Vom As-sad-Regime dagegen wurden vor dem Krieg weder Kirche noch Schule gegängelt.  

Diese Argumentationslinie hat auch John Eibner von Christian Solidarity International auf seinen Reisen in Syrien oft gehört. Für den Schweiz-Amerikaner verbirgt sich hinter der Sympathie der westlichen Öffentlichkeit für die Kurden eine «romantische Faszination». Realpolitisch betrachtet, so der Menschenrechtsaktivist, müsse man ein-räumen, dass es unter Assad «wohl keine politische Freiheit, aber einen grossen Raum für religiöse Freiheit gab». Menschenrechtsverletzungen und brutale Folter finde man von Saudi-Arabien bis Marokko vor. Ausgerechnet Syrien, ein Land, in dem eine grosse christliche Minderheit bisher ungefährdet leben konnte, sei ins Visier der amerikanischen Aussenpolitik geraten und nach dem Arabischen Frühling destabilisiert worden. 

Gravierender Fehler

Hans-Lukas Kieser, Titularprofessor der Universität Zürich mit Spezialgebiet osmanische Geschichte, pflichtet Eibner bei: «Es war ein gravierenden Fehler vom Westen, zusammen mit der Türkei und Saudi-Arabien im Endeffekt die jihadistischen Regimegegner aufzurüsten.» Er misst aber den kurdischen Regionen im Norden Syriens für den Schutz der religiösen Minderheiten eine bedeutende Rolle zu.

Kieser erinnert an den von der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) im Jahr 2014 verabschiedeten Gesellschaftsvertrag und stellt fest: «Die säkular ausgestaltete Selbstverwaltung garantiert die freie Ausübung der Religionen und sichert den Christen, Jesiden sowie Arabern kulturelle Autonomie und Mehrsprachigkeit zu.» Indes sei es unter den prekären Verhältnissen eines Bürgerkriegs schwer, alle Programmpunkte zu verwirklichen.

Eine andere Frage ist hingegen: Können die Kurden die Nachkriegsordnung Syriens überhaupt aktiv mitgestalten? Kieser bejaht dies. Vor allem die kühl kalkulierenden Russen seien sich über einen Umstand ganz genau im Klaren: «Ohne die gut organisierten Kurden wird Nordsyrien erneut im Chaos versinken. Ohne sie wird Syrien gar nicht erst imstande sein, seine Nordgrenze gegen den zunehmend unberechenbareren Nachbarn Türkei zu verteidigen.» 

Heks hilft in Syrien

Mehr als 300 000 Menschen sind nach der türkischen Invasion auf der Flucht. Heks leistet zusätzliche Not­hilfe für 6000 Flüchtlinge und intern Vertriebene. In einer ersten Phase werden rund 6000 besonders verletzliche Flüchtlinge in den syrischen Städten Al Raqqa und Al Hasakeh mit 150 000 Franken unterstützt. 

Spenden für Heks: 80-1115-1, «Nothilfe Syrien»