Recherche 05. November 2019, von Delf Bucher

«Ohne die Kurden versinkt Nordsyrien erneut im Chaos»

Syrien

Für christliche und jesidische Minderheiten werden laut dem Historikers Hans-Lukas Kieser weiterhin die kurdischen Regionen ein sicherer Hafen bleiben.

2017 sahen Sie noch gegenüber «reformiert.» einen kurdischen Staat als Zufluchtsort für die nahöstlichen Christen am Horizont. Nun ist der Traum vom eigenen Staat, der seit dem Ende des Ersten Weltkriegs die kurdische Gemeinschaft bewegt, wieder Lichtjahre entfernt. 

Hans-Lukas Kieser: Es sind schlimme Bilder, die uns von dem türkischen Einmarsch erreichen, von der Massenflucht. Trotzdem sollten wir uns nicht täuschen lassen, dass nun die Kurden von der nahöstlichen Bühne verschwinden. Trotz der bedrohlichen Situation bilden die autonomen Kurdengebiete weiterhin die sichersten Zufluchten für Minderheiten. 

Aber Erdogan ist doch der grosse Sieger? 

Erdogan hat wohl innenpolitisch seinen Sinkflug stoppen können. Nun sind tatsächlich die Reihen bis in die Opposition hinein geschlossen –  mit Ausnahme der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP), deren Mitglieder verfolgt und ins Gefängnis geworfen werden. Nach aussen hat Erdogan der Türkei jedoch stark geschadet, während die Kurden weltweit Ansehen gewonnen haben.

Das Treffen mit Putin zeigt jedoch, dass Erdogan flexibel die geopolitische Situation seines Landes ausnutzen kann, um sich einmal gen Washington, ein anderes Mal gen Moskau zu wenden. 

Putin gibt weitgehend den Takt an und dessen Zukunftsszenario von einem Nachkriegssyrien bezog immer die Kurden mit ein. 

Aber Assad, Putins Verbündeter, hat überhaupt kein Musikgehör für die kurdischen Bestrebungen nach Autonomie. 

Russland hat mehrfach angetönt: Ein Nachkriegs-Syrien soll weniger einheitsstaatlich organisiert sein. Russland versucht zwar, die Kurden gegen die USA zu instrumentalisieren. Aber es benötigt sie nicht minder gegenüber der Türkei und dem politisch starren Assad-Regime. Ohne die gut organisierten Kurden wird Nordsyrien erneut im Chaos versinken. Ohne sie wird Syrien nicht imstande sein, die Nordgrenze gegen den immer unberechenbareren Nachbarn zu verteidigen. 

Die Kurden sind also Ihrer Ansicht nach politisch keineswegs erledigt? 

Langfristig gesehen hält das politische Momentum für die Kurden an. Die Kurden haben aus bitteren Erfahrungen gelernt, staatlichen Akteuren nur beschränkt zu vertrauen. Sie gestalten daher ihren Handlungsspielraum möglichst vielseitig. Trumps Verrat bedeutet für sie, vermehrt auf konstruktive Beziehungen mit Russland und dem Iran zu achten. Bisher dienten die Kurden als wirksamer Puffer für die US-amerikanische Strategie, den Iran daran zu hindern, einen von ihm kontrollierten Korridor bis ans Mittelmeer zu schaffen.

Ganz haben sich die Kurden nicht von den US-Alliierten abgewendet. Sie wirkten beispielsweise entscheidend beim Einsatz gegen Abu Akbar al-Baghdadi mit.

Nicht nur das: Ende Oktober gab es im Nordosten Rojavas wieder gemeinsame Patrouillen. Die  Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), die sich um den militärischen Arm der kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG herum gebildet haben, arbeiteten jahrelang sehr verlässlich mit den amerikanischen Streitkräften zusammen. Sie wissen, dass sie im US-Kongress Rückhalt besitzen. Aber sie haben gelernt, in Alternativen zu denken. Natürlich wurden sie von Trump überrumpelt. Doch mit dem Abzug der US-amerikanischen Truppen mussten sie immer rechnen. 

Die Christen in der Grenzregion sind in diesen Kriegstagen gespalten, was das Projekt des Kurdenstaates Rojava anbelangt.

Die Erfahrungen der christlichen Minderheit sind je nach Ort verschieden. Tatsächlich gibt es auch unter den Kurden noch Vertreter eines primitiven Ultranationalismus. Aber Rojavas Gesellschaftsvertrag legt seit 2014 klar fest: Die säkular ausgestaltete Selbstverwaltung garantiert die freie Ausübung der Religionen und sichert Christen, Jesiden und Arabern kulturelle Autonomie und Mehrsprachigkeit zu. 

Aber aus Qamishli hat mir ein evangelischer Pastor berichtet, dass sie der christlichen Schule Bücher in kurdischer Sprache aufzwingen wollten und auch, wie christliche Geschäftsleute mit hohen Abgaben in den Bankrott getrieben wurden.

Solche Übertretungen müssen ernst genommen werden. Man sollte aber eines nicht vergessen: Der Aufbau der Autonomieregion fand unter den prekären Bedingungen eines Bürgerkrieges statt. 

Nun hat die USA mit ihrem Rückzug klar gemacht, dass universelle Werte nicht zählen. Die Losung heisst: «America First». 

Das ist bedauerlich, vor allem vor dem Hintergrund, dass die Kurden ihr eigenes Gebiet verlassen haben, um den vom Islamischen Staat beherrschten Südosten Syriens von Dschihadisten zu befreien. 11000 Tote haben die grösstenteils von Kurden gebildeten SDF zu beklagen - ein Opfer für die Grossregion, Europa und die USA. 

Stichwort Europa: Im Gegensatz zur Öffentlichkeit hält sich die Politik zurück, um den Kurden zur Hilfe zu kommen. 

Ja, europäische Nahostpolitik lässt nicht nur Mut, sondern auch elementares Rechtsdenken vermissen. Man ist nicht imstande, ein internationales Gericht zu organisieren, obwohl der Strafbestand des Genozids an den Jesiden dies dringlich macht. Kurzfristig entscheidet man sich wohl für ein kosmetisches Verbot der Waffenexporte in die Türkei. Aber in den ersten Tagen der türkischen Invasion rückten deutsche Panzer in das syrische Territorium ein. Immerhin hat Frankreich Mut bewiesen und hat letzte Woche die SDF als Verbündete deklariert.

Hans-Lukas Kieser

Hans-Lukas Kieser ist Titularprofessor an der Universität Zürich und zugleich Associate Professor in Newcastle, Australien. Er ist Spezialist für die Geschichte der osmanischen und nachosmanischen Welt, insbesondere auch die Geschichte der armenischen und kurdischen Minderheiten.