Recherche 07. Juni 2016, von Sabine Schüpbach Ziegler

Ein Dorf versucht, mit dem Schrecken zu leben

Seelsorge

Ein grausamer Vierfachmord erschütterte Rupperswil. Der Dorfpfarrer, ein Polizeigewerkschafter und ein Ethiker sprechen über die Verarbeitung des Verbrechens.

Bedrückt, aber gefasst. So beschreibt Pfarrer Christian Bühler die Stimmung im aargauischen Rupperswil. «Mit der Aufklärung der Tat ist eine gewisse Ruhe eingekehrt. Trotzdem tut sich das Geschehene zuweilen wie ein Abgrund auf. Es bleibt unfassbar.»

Kurz vor Pfingsten war es der Polizei gelungen, den Täter zu verhaften, der am 21. Dezember eine Frau, ihre zwei Söhne und die Freundin des Älteren ermordet hatte: einen 33-jährigen Mann aus Rup­perswil, der die Opfer nicht persönlich gekannt hat­te. Er hatte von der Mutter Geld erpresst, sich am 13-Jährigen vergangen und seinen gefesselten und geknebelten Opfern die Kehle durchgeschnitten.

Offene Fragen. So schockierend diese Erkenntnis­se waren: Die Aufklärung der Tat habe das Dorf auf­atmen lassen, sagt Bühler. «Die Ungewissheit davor war sehr schwierig. Die Menschen zogen sich zurück, schlossen die Haustüren ab. Viele fürchteten, der Mörder könnte erneut zuschlagen.» Genau das hat die Polizei mit der Verhaftung verhindert. Der geständige Täter hatte weitere Morde geplant.

Heute sei das Verbrechen weiterhin ein wichti­ges Gesprächsthema, etwa im Unterricht sowie un­ter Müttern und Vätern im «Fiire mit de Chliine», erzählt Bühler. Jüngst in den Seniorenferien habe er gespürt: «Die vielen offenen Fragen schweissen die Menschen zusammen. Man fragt sich: Was läuft falsch, dass jemand aus unserem Dorf so etwas tut?»

Eine Antwort darauf hat der Pfarrer nicht. Über mögliche psychische Erkrankungen des Täters mag er gar nicht spekulieren, da dies einer Rechtfertigung der Tat nahe komme. Diese ist für ihn schlicht «unentschuldbar». Der Seelsorger, der sporadisch mit der Familie der Opfer in Kontakt steht, sagte an der Beerdigung für die Frau und die Söhne: «Ich kann Gottes Handeln in der Tat nicht erkennen.» Der Theologe bezog sich auf die biblische Geschichte, in der Abraham seinen Sohn Isaak Gott opfern und mit dem Messer töten wollte – bis ihn ein Engel stoppte.

Der Engel fehlte. Dagegen habe in Rupperswil kein Engel das Morden verhindert, so der Pfarrer unmissverständlich. «Seien wir ehrlich, manchmal kommt eben kein Engel vorbei.» In poetischer Sprache beschwor er eine Kraft, die stärker sei «als die schwarze Leere», die das Verbrechen aufgerissen habe. Die Leere sei nicht die Wahrheit. «Wahr ist, was wir im Herzen haben.» Die Verstorbenen hätten mit ihrem warmen Wesen den Weg der Liebe gezeigt. «Das ist der gleiche Weg, der uns am Ende der Zeit wieder zueinander führt», so Bühler. Der Seelsorger sagt, er habe der Trauergemeinde vor allem eines mitgeben wollen: Liebe und Fürsorge.

Fürsorge brauchten auch die Familie des Täters sowie die Feuerwehrleute, die die Leichen bargen und nicht einmal mit den Angehörigen über das Gesehene sprechen durften. Sie wurden vom kantonalen Care-Team mit Psychologen, Seelsorgenden und Personen aus dem Gesundheitswesen betreut.

Den Polizistinnen und Polizisten, die monatelang unter Stillschweigen den Täter jagten, standen der Polizeipsychologe und der Polizeiseelsorger Thomas Jenelten zur Verfügung. Der Präsident der Aar­­gauer Polizeigewerkschaft, Markus Leimbacher, kann sich zum Fall Rupperswil nicht äussern, weiss aber, dass dieses Unterstützungsangebot geschätzt werde. Ob­­wohl manche Polizisten nicht gerne zugeben würden, dass sie Hilfe brauchen. «Sie fürchten um ihren Ruf, da Polizisten als harte Kerle gelten.» In Wirklichkeit seien aber viele froh, sich aussprechen zu können, wenn sie im Job oder Privatleben belastende Situationen erleben. Von einigen werde der Seel­sorger der Aargauer Landeskirchen als unabhängiger wahrgenommen als der vom Kanton bezahlte Psychologe.

Die Betroffenheit über die Morde war im ganzen Land riesig. Verständlicherweise, findet der Ethiker Markus Huppenbauer, denn der Täter habe etwas Unmenschliches getan. Der an der Uni Zürich tätige Theologe und Philosoph störte sich aber an den Rufen nach Rache und Vergeltung, die in den sozialen Netzwerken laut wurden. Damit begebe man sich auf dasselbe Niveau wie der Täter, sagt er in der Online-Ausgabe von «reformiert.» Das sei falsch, denn es sei eine zentrale Errungenschaft unserer Gesellschaft, den Täter weiterhin als Mensch mit Würde anzuerkennen und ihm einen fairen Prozess und eine angemessene Strafe zu geben. «Das unterscheidet uns von Willkür-Staaten.» Huppenbauer betont, als Ethiker müsse er einen nüchternen Blick bewahren. «Von den Betroffenen kann dies nicht er­wartet werden.»

Vergebung braucht Ressourcen. Kann es aus christlicher Perspektive jemals Vergebung für den Täter geben? Christian Bühler thematisiert diese Frage in der Seelsorge nicht und würde es mit den Angehörigen der Opfer vorläufig nicht tun. «Vergebung hat etwas mit Geben zu tun. Vergeben kann nur, wer noch Ressourcen wie Lebensfreude oder Güte hat. Die Angehörigen haben das nicht mehr – zumindest bis jetzt nicht.» Bald will der Pfarrer für seine Gemeinde einen Ausspracheabend anbieten. Damit die Menschen mit ihren Gefühlen nicht alleine bleiben.