Recherche 07. Juni 2016, von Sabine Schüpbach Ziegler

«Die Bibel konfrontiert uns mit einem unglaublichen Gott»

Verbrechen

Der Ethiker und Theologe Markus Huppenbauer spricht nach dem Vierfachmord von Rupperswil über das Böse und die Würde des Mörders.

Markus Huppenbauer, was fiel Ihnen als Ethiker besonders auf nach dem Vierfachmord von Rupperswil?

Zum einen zeigt das Verbrechen, dass das Böse, bildhaft gesprochen, mitten unter uns lebt. Auch ein unauffälliger Mensch kann offenbar zum brutalen Mörder werden. Anders gesagt: Menschen sind fähig zum radikal Bösen, das vergessen wir oft. Zum anderen fiel mir auf, dass in privaten Gesprächen wie auch den sozialen Netzwerken sehr schnell der Ruf nach Rache, Vergeltung und sogar der Todesstrafe laut wurde. Das ist meines Erachtens falsch. Es ist eine zentrale Errungenschaft unserer Gesellschaft, dass wir auch den Mörder als Menschen mit Würde anerkennen.

Er hat grausam vier Menschen ermordet. Hat er seine Würde nicht verspielt?

Der Täter hat als Mensch Würde, egal, was er getan hat. Es ist eine wichtige zivilisatorische Leistung, dass unsere Gesellschaft einen Menschen nicht auf das beschränkt, was er getan hat.

Warum ist das so wichtig?

Wenn wir Rache und Vergeltung ausüben, begeben wir uns auf die gleiche Ebene wie der Täter. Ja, der Täter hat etwas Unmenschliches getan und muss dafür angemessen bestraft werden. Aber er erhält einen fairen Prozess und die in unserem Rechtsstaat dafür vorgesehene Strafe. Und im Gefängnis wird er anständig behandelt. Das bedeutet etwa, dass er ausreichend zu essen erhält und nicht gefoltert wird.

Wie begründen Sie das theologisch?

Theologisch gesprochen schaut Gott Menschen mit dem Blick der Liebe und Gnade an. Auch wenn die biblischen Text sehr realistisch sind bezüglich des menschlich Bösen, konfrontieren uns besonders die neutestamentlichen Schriften mit einem unglaublichen Gott. Einer, der Menschen nicht auf ihre Taten und Werke festlegt. Übernehmen wir diesen Blick, dann nehmen auch wir einen Täter nicht nur als Täter wahr, sondern sehen in ihm den Menschen. Das muss sich in unserem Umgang mit ihm niederschlagen. Und es eröffnet eine Chance zum Neuanfang, egal, was ein Mensch getan hat. 

Sollte der Täter dazu seine Tat nicht bereuen?

Mit dieser Frage bewegen wir uns auf dünnem theologischen Eis. Ich will dennoch eine Antwort versuchen: Wenn mit der Frage gemeint ist, dass Menschen Vorleistungen bringen müssen, um sich der Gnade und Liebe Gottes als würdig zu erweisen, dann: nein. Was Menschen aber mit der liebevollen Zuwendung Gottes machen, ob sie sich auf Veränderungsprozesse einlassen, das hängt natürlich von der Bereitschaft der Menschen ab.

Der Rupperswiler Mörder ging äusserst grausam vor. Macht Sie das nicht betroffen?

Als Ethiker ist es meine Aufgabe, einen nüchternen und distanzierten Blick zu bewahren. Das kann von den direkt Betroffenen, den Angehörigen und Freunden sowie den Dorfbewohnern natürlich nicht erwartet werden. Sie können gar nicht nüchtern bleiben. Aber ich erwarte es von der Gesellschaft und der Kirche. Die Kirche soll nicht nur Betroffenheit artikulieren, sondern auch reflektieren.

Was bringt der nüchterne Blick?

Er kann allzu emotionale Reaktionen und Schnellschüsse in der Politik verhindern. Zu solchen ist es nach schweren Verbrechen immer wieder gekommen. Beispielsweise wurde aus der Betroffenheit über den Mord an einer jungen Frau  2004 die lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter eingeführt. Diese ist aus meiner Sicht moralisch fragwürdig. Der Verfassungsartikel nimmt bestimmten Tätern grundsätzlich die Möglichkeit, irgendwann wieder in die Gesellschaft zurückzukehren.

Sehen Sie im Nachgang zu Rupperswil auch die Gefahr von politischen Schnellschüssen?

Es werden nun politische Sofortmassnahmen gefordert. Die Möglichkeit, zukünftig DNA-Spuren im Hinblick auf eine gezielte Tätersuche detaillierter auswerten zu  dürfen, ist meines Erachtens weniger problematisch als andere Methoden. Diskutiert wird aktuell die gezielte Auswertung von Handydaten von Hunderten von Unschuldigen. Hier muss man gründlich abwägen, ob es legitim ist, Freiheitsrechte und die Privatsphäre einzelner zugunsten polizeilicher Fahndungserfolge und der sozialen Sicherheit so stark einzuschränken.

Was beschäftigt Sie als Theologe am meisten nach dem Verbrechen?

Mich beschäftigt die Frage: Wie gehen wir mit  Menschen um, die derart abscheuliche Taten begangen haben? Kann es in diesen Fällen  so etwas wie Versöhnung überhaupt geben? Ich gehe davon aus, dass der Rupperswiler Täter, wenn überhaupt, erst nach sehr vielen Jahren wieder frei kommt. Dann muss gelten: Wir behaften ihn nicht mehr auf seine Taten. Er hat gebüsst, und damit ist die Sache für die Gesellschaft abgeschlossen. Er erhält eine Chance auf einen Neubeginn, auch wenn er etwas getan, was nie wieder gut gemacht werden kann.

Das klingt fast nicht annehmbar angesichts der Schwere der Tat.

Aber es entspräche dem versöhnlichen und gnädigen Blick, wie ihn das Neue Testament vorgibt. Und es unterscheidet uns von gewalttätigen Gesellschaften.

Daran müssen wir festhalten, auch wenn der Täter etwas äusserst Gewalttätiges getan hat?

Gerade dann. Ein solche Tat kann dazu führen, dass man sich stärker bewusst wird, wie fragil unser Leben ist. Wir haben viel Grund dankbar für unser alltägliches Leben zu sein. In Familien, Schulen, Vereinen und Kirchen müssen wir von früh auf lernen, wie wichtig menschliche Beziehungen sind und dass wir diese sorgfältig pflegen müssen. Auch den rechtsstaatlichen Institutionen, welche uns vor dem Abgleiten in Gewalt und Unmenschlichkeit schützen, sollten wir Sorge tragen.

Das Verbrechen

Kurz vor Weihnachten 2015 wurden im aargauischen Rupperswil eine Frau, ihre beiden Söhne und die Freundin des Älteren ermordet. Vor Pfingsten gelang es der Polizei, den Täter zu verhaften: einen 33-jährigen, zuvor unauffälligen Mann aus Rupperswil selbst. Er hatte von der Frau Geld erpresst, sich am 13-Jährigen vergangen und seinen gefesselten und geknebelten Opfern die Kehle durchgeschnitten.

Markus Huppenbauer

Der Theologe und Philosoph ist geschäftsführender Direktor des Zentrums für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP). Er interessiert sich vor allem für die Umsetzung von ethischen Normen und ethischen Entscheidungen in konkreten Fällen, zum Beispiel in Unternehmen.