Die Kurden im Nordirak wollen die Unabhängigkeit. Was bedeutet dies für die krisengeschüttelte Region?
Hans-Lukas Kieser: Kurdische Politik kann heute, mehr als andere, zu wirklicher nahöstlicher Erneuerung beitragen.
Warum?
Der Islamische Staat ist ein Test und Augenöffner dafür gewesen, wer gegen konfessionelle Polarisierung und dschihadistische Barbarei immun und wehrhaft, aber für Millionen von Verfolgten, darunter viele Nichtmuslime, nachhaltig offen war.
Aber besteht jetzt nicht die Gefahr, dass ein kurdischer Staat neue Minderheiten schafft?
Kurden haben eine fast hundertjährige Leidensgeschichte als Opfer radikalnationalistischer Einheitsstaaten hinter sich. Zuvor hatten viele von ihnen im osmanischen Dschihad des Ersten Weltkriegs und insbesondere beim Völkermord an den Armeniern noch mitgetan. Im Unterschied zu anderen Muslimen vor allem in der Türkei, haben zahlreiche kurdische Wortführer seit dem späten 20. Jahrhundert Reue und Solidarität mit den damaligen christlichen Opfern bekundet.
Sie sind also zuversichtlich, dass ein Staat jenseits des Nationalismus möglich ist?
Die Zuversicht liegt daher darin begründet, dass sich unter den Kurden eine historische Selbstkritik und vielfältige politische Ressourcen, von konservativ bis revolutionär, entwickelt haben, die alle das Prinzip eines egalitären Pluralismus praktizieren, also Gleichheit über ethnoreligiöse und Geschlechtergrenzen hinaus.
Könnte ein kurdischer Staat zum Zufluchtsort für verfolgte Christen und Jesiden werden?
Die kurdischen Autonomiegebiete in Nordsyrien und im Nordirak sind seit Jahren solche Zufluchtsorte. Ein zukünftiger kurdischer Staat wird von der Verfassung her ethnoreligiös gemischt und somit Garant solchen Zusammenlebens sein. Verlautbarungen und Regelungen der letzten Jahre gehen klar in diese Richtung. Die Türkei als Unterstützer der Dschihadisten in Syrien und der Irak als polarisierter, nahezu gescheiterter Staat hatten lange gegenüber dem IS versagt. Der Iran hat zwar den IS von Anfang an bekämpft, mit seinen mächtigen schiitischen Milizen hat er jedoch Syrien und noch viel stärker den Irak konfessionalisiert. Diese Konfessionalisierung ist Teil des Problems, nicht der Lösung.
Und es gibt keine Spannungen zwischen Kurden und den religiösen Minderheiten, die in ihre Gebiete geflüchtet sind?
Insgesamt haben sich die Kurden in Nordsyrien und im Nordirak nicht nur als Protektoren erwiesen, sondern auch als bereit, andere politisch partizipieren zu lassen. Selbstverständlich ist das Bild vor Ort vielfältig. Manche Jesiden tragen es den Peshmerga nach, dass sie im Herbst 2014 dem brutalen Vormarsch des IS bei Sinjar gewichen sind – im Gegensatz zu Kräften der YPG und PKK. Zumal nach chaotischen Umbrüchen Besitzansprüche oft unklar sind, aber auch weil nicht alle pluralistische Egalität verinnerlicht haben, gibt es lokale Konflikte. Sie tun dem Gesamtbild indes nicht Abbruch.
War der Entscheid von Kurdenpräsident Masud Barzani, das Referendum gegen den Widerstand der Zentralregierung in Bagdad durchzuführen, nur der Befreiungsschlag im Wettbewerb mit internen Rivalen oder der Anfang einer kurdischen Erfolgsgeschichte?
Man kann es drehen und wenden, wie man will: Für Kurden nicht nur im Irak sondern auch im Iran, in Syrien, der Türkei und einer weltweiten Diaspora bedeutete dies eine historische Gelegenheit, endlich ihren kollektiven Willen kundzutun, wenn auch nur ein Bruchteil von ihnen stimmen konnte. Inwiefern dies eine Erfolgsgeschichte werden wird, hängt von vielen Faktoren ab. Es wird jedenfalls ein langer und dorniger Weg inmitten schwieriger Nachbarn sein.
Die grossen Rivalen Türkei und Iran eint die scharfe Verurteilung des Referendums. Sie wollen die kurdischen Autonomiegebiete isolieren. Von wem erhalten die Kurden überhaupt Unterstützung?
Gegenwärtig tut es niemand offen ausser, zumindest verbal, Israel. Ein primäres Interesse an einem konstruktiven, pro-aktiven Umgang mit dem erstarkenden kurdischen Faktor hätten die Nachbarstaaten. Die Türkei hatte das unter der AKP-Regierung einige Jahre lang recht gut verstanden. Das ist nicht mehr der Fall, seit Erdogan im Bund mit den radikalen Nationalisten der MHP antikurdische Politik betreibt.
Die USA gingen bereits auf Distanz, sie fürchten, dass der Irak auseinanderfällt. Aussenminister Rex Tillerson sagte, er wolle einen vereinten, föderalen und demokratischen Irak und dem kurdischen Votum für die Unabhängigkeit fehle die Legitimität.
Wie in üblen Zeiten der Kurdenverfolgung im 20. Jahrhundert raufen sich gegenwärtig undemokratische Nachbarstaaten gegen die Kurden zusammen, während der Westen sich davor duckt, in dieser überaus heiklen Phase zu seinem treuesten Verbündeten im jahrelangen Kampf gegen den IS zu stehen. Dass sich das US-Aussenministerium derart deutlich vom Referendum und dessen Ergebnis distanziert hat, muss man für unverantwortlich halten. Denn das bedeutet, dass weiterhin ein Status quo beschworen wird, der den IS wie auch die problematische schiitische Milizenherrschaft hervorgebracht hat.
Wie gross ist die Gefahr, dass die Gegner der Kurden, die in Bagdad, Ankara und Teheran regieren, die Waffen sprechen lassen?
Es besteht Kriegsgefahr, doch gehe ich davon aus, dass es Akteuren vor allem aus den USA und Russland gelingen wird, die Situation aus eigenem Interesse zu entspannen. Im Unterschied zu westlichen Staaten äusserte sich Russland wohlweislich nicht negativ über das Referendum. Kurz vor dem Referendum hat es einen bedeutenden Investitionsvertrag mit der kurdischen Autonomieregierung unterzeichnet und ist daher an friedlicher Entwicklung hoch interessiert.
Und der Westen schaut weiterhin nur zu?
Auf die westlichen Regierungen, allen voran die USA, üben jüdische und andere Kreise Druck aus, die Weichen zu Gunsten einer vermehrt kurdisch bestimmten nahöstlichen Zukunft zu stellen. Wer statt auf den Status quo auf den notwendigen, freilich einschneidenden Wandel setzt, handelt verantwortlich.