Und plötzlich sind sich die Rivalen einig. Der Iran, der sich als Schutzmacht der schiitischen Muslime gebärdet, reagierte ebenso aggressiv auf das kurdische Unabhängigkeitsreferendum wie die sunnitische Türkei. Beide eint die Angst, dass Kurden im eigenen Land dem Beispiel im Nordirak folgen. Dort hatte der kurdische Präsident Masud Barzani Ende September über die Unabhängigkeit abstimmen lassen. Mit einem klaren Ja als Resultat.
Der Westen duckt sich weg. Die USA gingen sogleich auf Distanz. Aussenminister Rex Tillerson sagte, der Abstimmung fehle die Legitimität. Damit stützte er die Zentralregierung in Bagdad. Tillerson sprach sich für einen «vereinten, föderalen und demokratischen Irak» aus. Verbale Unterstützung erhielten die Kurden bisher nur aus Israel.
Dass die USA die Kurden im Stich lassen, kritisiert Hans-Lukas Kieser scharf: «Wie in üblen Zeiten der Kurdenverfolgung raufen sich gegenwärtig undemokratische Nachbarstaaten gegen die Kurden zusammen, während der Westen sich davor duckt, in dieser heiklen Phase zu seinem treuesten Verbündeten im jahrelangen Kampf gegen den Islamischen Staat zu stehen.» Kieser ist Titularprofessor an der Universität Zürich und zugleich Associate Professor in Newcastle, Australien. Er ist Spezialist für die Geschichte der osmanischen und nachosmanischen Welt.
Immun gegen die Barbarei. Kieser erkennt zwar eine durch die Drohgebärden aus Ankara, Bagdad und Teheran erhöhte Kriegsgefahr. Grösser schätzt er aber die Chance ein, die sich durch Barzanis Unabhängigkeitskurs eröffnet: «Kurdische Politik kann zu wirklicher nahöstlicher Erneuerung beitragen.» Kieser betont die tragende Rolle der Kurden im Kampf gegen den IS: Dieser Krieg sei «ein Augenöffner dafür gewesen, wer gegen konfessionelle Polarisierung und dschihadistische Barbarei immun und wehrhaft, aber für Millionen von Verfolgten, darunter viele Nichtmuslime, nachhaltig offen war».
Für den Experten ist klar, dass die Kurden den Test bestanden haben. Seit Jahren seien die kurdischen Autonomiegebiete Zufluchtsorte für vom IS verfolgte Jesiden und Christen. «Ein zukünftiger kurdischer Staat wird deshalb von der Verfassung her ethnoreligiös gemischt und somit Garant für ein Zusammenleben verschiedener Religionen sein.»
Schuldbekenntnis der Kurden. Den Kurden attestiert Kieser die Fähigkeit zur historischen Selbstkritik. «Einst hatten viele im osmanischen Dschihad des Ersten Weltkriegs und insbesondere beim Völkermord an den Armeniern mitgetan.» Im Gegensatz zu anderen Muslimen hätten kurdische Wortführer inzwischen aber «Reue und Solidarität mit den christlichen Opfern bekundet».
Der Pluralismus unter Kurden «von konservativ bis revolutionär» hat laut Kieser dazu geführt, dass sich in ihren Autonomiegebieten die Gleichheit der Geschlechter und Religionen etablieren konnte. Die Entwicklung zu stützen, werde für den Westen nicht einfach. «Doch nur wer jetzt statt auf Konfessionalisierung auf den einschneidenden Wandel setzt, handelt verantwortlich.»