Geplante Umsiedelung mit unklarem Ausgang

Nahost

Die türkische Militäroffensive im Nordosten Syriens dauert an. Experten warnen vor einer neuen Flüchtlingswelle. Davon könnten auch Christen betroffen sein.

Nach Angaben der UNO sind seit Beginn der türkischen Militäroffensive im Nordosten Syriens innerhalb von 48 Stunden mehr als 70 000 Menschen vertrieben worden. Das Uno-Welternährungsprogramm in Genf meldete, dass die meisten Menschen aus den Regionen Ras al-Ain und Tall Abjad geflüchtet seien. Falls die Offensive weiter andauert, rechnet das International Rescue Committe mit insgesamt 300 000 Flüchtlingen innerhalb der Region.

Die türkische Regierung entsandte am 9. Oktober Gruppen in das syrische Grenzgebiet, eine hauptsächlich von Kurden bevölkerte Region, um dort eine sogenannte Sicherheitszone einzurichten. Die Zone entlang der Grenze soll sich gemäss türkischer Vorstellungen vom Euphrat-Fluss nach Osten bis hin zur irakischen Grenze im Osten sowie rund 30 Kilometer tief auf syrisches Gebiet erstrecken. Die Türkei strebt die alleinige Kontrolle über das Gebiet an.

Demographische Veränderung zur Folge

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan verfolgt mit diesem Schritt innenpolitische wie auch aussenpolitische Ziele. Unter anderem will die Türkei vordergründig verhindern, dass die kurdischen Milizen der YPG weiterhin das Grenzgebiet zu Syrien kontrollieren. Es ist innerhalb von drei Jahren Erdogans dritter Versuch, eine Art türkisches Protektorat im Grenzgebiet zu etablieren: 2016 versuchte er dies nördlich von Aleppo, 2018 in Afrin.

Erdogan argumentiert, dass er in dieser Pufferzone einen Teil der 3,6 Millionen in der Türkei lebenden syrischen Flüchtlinge ansiedeln will. Dieser Schritt hätte eine demographische Veränderung der Region zur Folge. Denn die meisten in der Türkei lebenden Syrern stammen nicht aus dem Nordosten Syriens, sondern aus arabischen Gebieten wie Homs, Aleppo oder Damaskus. Es ist davon auszugehen, dass mit dieser geplanten Ansiedelung andere Bevölkerungsteile, mehrheitlich Kurden, aus dem Gebiet vertrieben würden. «Sollte Erdogan diesen Plan tatsächlich umsetzen, wird dies auf lange Zeit hinaus ethnische Konflikte zur Folge haben», schätzt SRF-Nahostkorrespondent Pascal Weber die Lage zu Beginn der Invasion ein.

Fortsetzung des Genozides von 1915

Der österreichische Nahostexperte Thomas Schmidinger geht davon aus, dass nicht nur Kurden, sondern auch zahlreichen christlichen assyro-aramäischen und armenischen Christen die Vertreibung droht. «Sämtliche Christen, mit denen ich auf meinen eigenen Reisen in die Region zuletzt gesprochen habe, sind davon überzeugt, dass mit einem türkischen Einmarsch das Ende des Christentums in der Region angebrochen sein wird», schreibt der Politologe in einem Artikel in der österreichischen Tageszeitung «der Standard». Viele in der Region lebende Christen sind armenische Nachkommen, die 1915 aufgrund des an ihnen verübten Genozides aus der Türkei flüchteten. Diese würden gemäss dem Politologen die türkischen Angriffe als Fortsetzung des Genozids gegen ihre Urgrosseltern betrachten.

Den Einschätzungen der deutschen Nahostexpertin zufolge wird möglicherweise der syrische Präsident Baschar al-Assad schlussendlich von der türkischen Invasion profitieren; Weil die Kurden kaum noch Verbündete hätten, würden sich diese an das syrische Regime wenden. «Und dann wird al-Assad erreichen, was er immer wollte: Nämlich das ganze syrische Staatsgebiet wieder zu kontrollieren», sagt Helberg in einem Interview mit dem TV-Sender «Deutsche Welle». Und dies würde das Ende der kurdischen Autonomie bedeuten.