Recherche 26. Oktober 2022, von Alexander Vitolic

«Nebelleben» würdigt Paul Haller und Hermann Burger

Lyrik

Der Kirchberg in Küttigen verbindet das Schicksal zweier Dichter: Paul Haller und Hermann Burger. Der Aargauer Musiker Stephan Hunziker hat Gedichte von ihnen vertont.

Es ist die Aussicht, weit übers Aaretal bis in die Voralpen, die dem Kirchberg zwischen Biberstein und Küttigen auf dem Ausläufer des Juragrates eine magische Aura verleiht. Über allem thront als Fixpunkt die Kirche mit dem typischen «Käsbissenturm». Hier haben sich einst zwei Schweizer Schriftsteller im ehemaligen Pfarrhaus niedergelassen: Der Pfarrer und Schriftsteller Paul Haller (1882–1920) amtete von 1906 bis 1910 auf dem Kirchberg, der Autor und Journalist Hermann Burger (1942–1989) lebte und arbeitete von 1972 bis 1982 mit seiner Familie hier.  

Der Aargauer Musiker und Liedermacher Stephan Hunziker widmet ihnen nun zusammen mit dem Schauspieler Michael Wolf die musikalisch begleitete Lesung «Nebelleben», die er an drei Abenden aufführen wird (Kasten). Der 55-jährige Aarauer hat sich als Teil des Mundartliederduos Chommerbuebe an der Seite von Benno Ernst einen Namen gemacht. Michael Wolf, der die Texte lesen wird, arbeitet seit 1989 als freier Schauspieler im deutschsprachigen Raum, unter anderem in Basel, Luzern und Zürich. Aufgrund eines vollen Terminkalenders kann er nicht am Treffen auf dem Kirchberg teilnehmen.

Viele Parallelen 
Stephan Hunziker lässt den Blick in die Ferne schweifen, während die Wolkendecke immer wieder aufreisst und definierte Lichtstreifen über die Hügel gleiten: Hier fühlt er sich zu Hause. Hinter ihm, in der südöstlichen Ecke des Kirchhofs, steht die ausladende Nüsperli-Linde, die ein Markenzeichen geworden ist. Jakob Nüsperli, von 1781 bis 1835 Pfarrer auf dem Kirchberg, hatte sie gepflanzt und unter ihr seine letzte Ruhe gefunden. Ihm widmete Hermann Burger in «Kirchberger Idyllen» ein Gedicht mit dem Titel «Nüsperli-Linde» .

Häufig schien es mir, als ob diese Verse nur darauf gewar­tet hätten, dass ich sie vertone.
Stephan Hunziker, Musiker


Die Parallelen zwischen dem berühmten, ebenso depressiven wie lebenshungrigen Schriftsteller und dem zurückgezogenen, mit sich hadernden Mundartdichter Paul Haller sind vielschichtig, sagt Hunziker. «Sie bewohnten nicht nur dasselbe Haus und sassen unter demselben Baum. Haller war Pfarrer, Burger wäre gern einer geworden. Beide sind im Juli zur Welt gekommen im Abstand von 60 Jahren, und beide würden sie 2022 einen runden Geburtstag feiern.» Tatsache ist auch, dass sich beide das Leben nahmen.

Hermann Burger begegnete Hallers Texten angeblich auf kuriose Weise: Im Estrich des Pfarrhauses stiess er auf eine Erstausgabe der Gedichte. Er sah sich mit Haller inhaltlich verbunden: Beiden sind weder die Schweizer Zentren noch die europäischen Metropolen Nährboden ihres Schaffens, sondern ihr Blick in und aus der sogenannten Provinz in die Welt hinaus. Paul Haller schrieb einmal: «Im Hinterland wohnt die Unendlichkeit.» 

Haller erst «nicht so seins» 
«Schwarz gropet d’Nacht dr Aare noh, / Käis Stärndli schickt e Häiteri. / ’S mues jeden äinist s’Läbe loh / Und usem Liecht a d’Feisteri», lautet die erste Strophe von Paul Hallers Mundartgedicht «z’Nacht».
Burger bezeichnete es zeitlebens als «das schönste Fluss-Gedicht». Das Werk bildet auch für den in Hunzenschwil aufgewachsenen Stephan Hunziker den ersten Berührungspunkt mit den Werken des Dichters aus Brugg: «Als 20-jähriger Rekrut habe ich von einem Kameraden zum ersten Mal von ‹z’Nacht› gehört.» Hunziker lacht, damals sei das noch nicht so seins gewesen. Als junger Mann hörte er lieber die Beatles, Paul Simon oder Cat Stevens. Dennoch sei ihm das Gedicht geblieben: Das Bedürfnis, sich vertieft mit den Arbeiten Paul Hallers zu beschäftigen, spürt er erst einige Jahre später. 

Nach der Matura in Aarau ergreift Stephan Hunziker das Studium der klassischen Gitarre an der Musikhochschule in Zürich und schliesst mit dem Lehrdiplom ab. 2005 gründet er mit Benno Ernst die Chommerbuebe. Die Texte von Paul Haller spielen von Beginn an eine grosse Rolle. Hunziker vertont sie mit einer tief empfundenen Vertrautheit: «Häufig schien es mir, als ob diese Verse nur darauf gewartet hätten, dass ich sie vertone.» Und zwar in derselben Sprache, die Hunziker spricht: «Plötzlich merkte ich, wie ehrlich und befreiend es ist, mich musikalisch in der eigenen Mundart ausdrücken zu können.»

Grundlage für «Nebelleben» 
Das Album «Aber Schmützli git’s ekäis!» ist ein vorläufiger Höhepunkt dieser Auseinandersetzung, eine Mischung aus Country, Blues und Folk. Natürlich ist darauf auch das Stück «z’Nacht» zu hören, mal mit Musikbegleitung, mal ohne.  

Und: Es bildet gewissermassen die Grundlage der musikalischen Inszenierung «Nebelleben», mit der Hunziker, Benno Ernst und Michael Wolf in der Kirche auftreten. Die Auszüge aus dem Werk von Hermann Burger wählte Michael Wolf aus, begleitet werden die drei Männer vom Singkreis Kirchberg. Stephan Hunziker betont, dass weitere Anlässe mit anderen Chören auf Anfrage möglich seien. Er wünscht sich, mit dem Stück auf Reisen zu gehen. Aus dem Hinterland in die Unendlichkeit eben. 

Nebelleben: Lyrik und Musik

«Nebelleben» ist ein Gemeinschaftsprojekt, das Stephan Hunziker zusammen mit dem Chommerbuebe-Musiker Benno Ernst, dem Schau-spieler Michael Wolf und dem Singkreis Kirchberg unter der Leitung von Regisseur Heinz Schmid an mehreren Abenden aufführen wird.  

– So, 30. Oktober, 17 Uhr
– Sa, 5. November, 20 Uhr
– So, 6. November, 17 Uhr
Kirchberg, Küttigen
Keine Reservation, Kollekte