Recherche 07. November 2023, von Felix Reich

Mitgefühl schafft Vertrauen

Dialog

Imam Muris Begovic und Rabbiner Noam Hertig sind Freunde. Im Gespräch mit «reformiert.» zeigen sie, wie wichtig es ist, in Zeiten der Spaltung am Miteinander festzuhalten.

Es brauchte journalistische Hartnäckigkeit, um Muris Begovic und Noam Hertig zu überzeugen. Es sei nicht die Zeit, sich öffentlich zu äussern, sagen sie. Begovic hat solchen Druck wie nach dem Angriff der Hamas auf Israel noch nie erlebt: «Was ich sage, wird missverstanden, was ich nicht sage, wirft man mir vor.» Für Hertig stellt der Krieg die interreligiöse Freundschaft auf die Probe. «Reden wir darüber, stossen wir an Grenzen und merken, wo wir uns nicht verstehen.»

Das Gespräch verändert

Aber ist es jetzt nicht umso wichtiger, die Grenzen zu benennen, Unverständnis zuzulassen, Gründe für das Verstummen zu suchen und am Miteinander festzuhalten?

Die Freunde lenken ein. Und nach einer Stunde im Café Zytlos im Kirchgemeindehaus Enge sagt Hertig zu Begovic: «Wir sollten möglichst bald ein Projekt realisieren, das jüdische und muslimische Jugendliche zusammenbringt.» Für die Förderung solcher Begegnungen erhielten der Rabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich und der Imam, der auch Geschäftsführer der Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich ist, 2018 den Dialogpreis Schweizer Juden.

Der Distanzierung müde

Im Gespräch geschieht das, was Begovic gegenüber «reformiert.» nach der Preisvergabe zur Freundschaft mit Hertig sagte: «Wir reden so lange, bis beide zufrieden nach Hause gehen.» Diesmal ist es mehr als Zufriedenheit: Erleichterung, Hoffnung vielleicht sogar. Gerade weil die Suche nach Worten oft schwerfällt. Etwa als Begovic sagt, er sei es müde, sich zu distanzieren. «Die Hamas hat nichts mit mir zu tun, sie spricht nicht im Namen des Islam.»

Hertig kann die Distanzierungsmüdigkeit verstehen, doch er sagt: «Würden Extremisten meiner Religion Terroranschläge verüben, würde ich deutlich machen wollen: Das passiert nicht in meinem Namen.» Zudem fühlten sich Jüdinnen und Juden in der Schweiz bedroht. «Die Angst vor Übergriffen ist nicht paranoid, sie ist real.» Ihm würde deshalb helfen, «wenn sich muslimische Stimmen klar von der Hamas distanzieren würden».

Der tiefe Schmerz

Der Rabbiner beschreibt den Antisemitismus als ein Virus. «Es grassiert überall auf der Welt, mutiert in kulturellen Kontexten und kehrt verändert immer wieder zurück.»

Jetzt wird Begovic emotional. Die Frage, ob er sich vom Terror distanziert, stellt sich nicht. Der 7. Oktober habe ihn sprachlos gemacht. «Der Angriff der Hamas lässt sich durch nichts rechtfertigen.» Er fühle einen tiefen Schmerz, wenn er an die Angehörigen der aus Israel entführten Geiseln denke. «Sie wissen nicht, ob sie ihre Liebsten je wiedersehen, nicht einmal, ob sie sie einmal werden beerdigen können.»

Empathie relativiert nichts

Das Mitgefühl schafft Vertrauen. Nun erwähnt Begovic, was ihn stört. «Menschen, die wie ich um die zivilen Opfer der israelischen Vergeltung trauern, dürfen nicht in die Nähe der Hamas gerückt werden.» Empathie relativiert nichts. Hertig sagt: «Ich habe Mitgefühl mit der Zivilbevölkerung, die in Gaza leidet, das darf man von mir erwarten.»

Begovic hat Angst, dass die Bilder von propalästinensischen Demonstrationen in Nachbarländern, an denen es zu Ausschreitungen und zu antisemitischen Ausfällen kommt, den Muslimen in der Schweiz schaden. «Ich muss die muslimische Gemeinschaft hierzulande in Schutz nehmen: Das Existenzrecht Israels wird bei uns nicht bestritten, Israel ist eine Realität», betont er.

Antisemitismus bekämpfen

Der Imam fürchtet, dass unter dem Vorwand, den Antisemitismus bekämpfen zu wollen, die Angst vor den Muslimen geschürt wird. Die religiösen Schriften des Islam böten keinerlei Grundlage für Judenhass. «Deshalb darf es keinen muslimischen Antisemitismus geben.»

Die Freunde nahmen sich Zeit, einander zuzuhören, Missverständnisse auszuräumen. Sie hatten den Mut, auszusprechen, was irritiert und ängstigt. Rabbiner und Imam fanden Worte des Mitgefühls in einer Zeit der Spaltung. Sie zeigten, indem sie das Gespräch wagten, dass Versöhnung möglich ist.