Es ist kein angenehmes Wetter zum Velofahren an diesem Apriltag. Eine giftige Bise weht über den Pausenplatz in Zollikofen, es beginnt zu nieseln. Bevor sich die 15 Frauen auf ein Fahrrad schwingen – bis auf zwei alle zum ersten Mal im Leben –, müssen sie sich aufwärmen.
Velofahren eröffnet den Frauen eine neue Welt
Als Erwachsene zum ersten Mal auf ein Velo zu steigen, braucht Mut, kann aber gerade für Migrantinnen ein grosser Schritt zu mehr Unabhängigkeit sein. Pro Velo bietet Kurse an.
Kursleiterin Marianne Fässler lässt die angehenden Velofahrerinnen dazu einen Elefanten waschen: Pantomimisch werden Ohren, Rüssel und Bauch des Tiers eingeseift und geschrubbt. An diesem ersten Kursnachmittag wird viel mit Händen und Füssen gesprochen, nicht alle Frauen verstehen und sprechen bereits gut genug Deutsch. Es hat sie aus allen Weltregionen nach Bern verschlagen. Viele kennen sich aus dem interkulturellen Frauentreff Karibu, wo manche auch einen Sprachkurs besuchen. Aber jetzt wollen sie Velo fahren lernen.
Seit mehr als zehn Jahren bietet Pro Velo Bern Velofahrkurse für Migrantinnen an. Für «ganz Anfängerinnen», wie es in der Ausschreibung umschrieben ist. «Das Velofahren ermöglicht es den Frauen, selbstständig unterwegs zu sein», sagt Marianne Fässler. In der Schweiz sei Velofahren eine Selbstverständlichkeit. «Für viele Frauen, die ich durch diese Kurse begleitet habe, eröffnet es eine neue Welt.»
Die Angst vor dem Start
Der Elefant ist sauber, bei allen sind Beine und Arme aufgewärmt, und die Nervosität hat sich etwas gelegt. «Ich habe immer noch Angst», sagt Zeynep, die sich mit ihrer Kollegin Mehtap für den Kurs angemeldet hat. Die beiden Frauen stammen aus der Türkei und möchten nur mit den Vornamen genannt werden. Es sei doch peinlich, wenn man als Erwachsene noch nicht Velo fahren könne, sagen sie.
Weil es dem Grossteil der Gruppe gleich geht, entscheidet Marianne Fässler, die Kursvelos etwas zu entschleunigen. Zusammen mit ihren Helferinnen schraubt sie die Pedale ab und setzt die Velosättel ganz nach unten. Fässler hantiert dabei wie ein geübter Velomechaniker. Als begeisterte Tourenfahrerin hat sie gelernt, einfache Reparaturen selber durchzuführen.
Die ausgemusterten Mietvelos sind jetzt «Like-a-bikes» für Erwachsene. Als erste Übung stossen sich die Teilnehmerinnen mit den Füssen ab und rollen gemächlich über den Pausenplatz. Fässler mahnt die Frauen, nicht allzu langsam zu fahren. «Das Velo ist stabiler, wenn ihr ein gewisses Tempo habt.»
Die Teilnehmerinnen, die schon etwas fahren können, treten bereits in die Pedale. Die eine sogar ziemlich forsch. Dabei hat sie vorhin erzählt, sie wisse nicht mehr genau, wie man bremse. Ausserdem blickt sie nach unten, so dass sie einen Pingpongtisch beinahe zu spät bemerkt. «Hilfe!», schreit sie und gerät bös ins Schwanken. Ihre Betreuerin kann sie am Gepäckträger bremsen und stützen.
Nichts passiert. Alle lachen. Marianne Fässler zeigt daraufhin allen, wie man bremst. «Nicht nur mit einem Finger, mindestens mit dreien.» Mit Kreide wird eine Stopp-Linie auf den Asphalt gemalt.
Und warum wollen die Frauen das Radfahren erlernen? «Weil es schön ist», sagt Zeynep. Weil sie in Äthiopien ab und zu mit einem Velo gefahren sei und das hier auch möchte, erzählt eine andere Frau. «Weil meine Kinder Velo fahren können», sagt eine dritte.
Alle Frauen tragen Velohelme. Im Lauf des Nachmittags kommt es ab und an zu Beinahekollisionen und leichten Stürzen. Bevor die Teilnehmerinnen auf die Strasse dürfen, müssen sie auf dem Velo das Gleichgewicht halten können, den Kopf drehen, bremsen, Handzeichen geben und die Verkehrsregeln kennen. Und üben, üben, üben.
Sechsmal zwei Stunden dauert der Kurs. Die Frauen bezahlen 75 Franken. Wenn die Kosten für jemanden zu hoch sind, sucht Pro Velo eine Lösung. Das Velofahren soll nicht am Geld scheitern. Ein Problem sei aber häufig, dass sich die Frauen kein Velo leisten könnten. «So gewinnen sie keine Routine.»
Der Aha-Moment
Je später der Nachmittag, desto gelöster wird die Stimmung. Im Team helfen meistens Frauen. Es habe sich nämlich gezeigt, dass gewisse Teilnehmerinnen gehemmt seien, wenn Männer unterrichten, erklärt Marianne Fässler. «Man muss ja beim Helfen die Frauen auch stützen und anfassen.»
Sie zeigt Gül, wie sie den schwierigsten Teil des Kurses bewältigen kann: Die Füsse müssen vom Boden auf die Pedale. Zuerst wird nur mit einem Fuss geübt, dann mit dem zweiten. Gül stösst sich ab, rollt einen Meter, bremst wieder, das Velo fällt um. «Trau dich! Loslassen! Hab keine Angst!», ruft die Leiterin.
Gül versucht es wieder und wieder. Und plötzlich fährt sie ein paar Meter. «Ich kann es!», ruft sie, ihr Kopftuch flattert unter dem Helm. Solche Momente seien es, die sie für das Leiten der Kurse motivierten, sagt Fässler.
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