Recherche 16. Juni 2022, von Felix Reich

Eine Kirche wird zum Kinderhort

Schule

In der Kirche Wipkingen sollen Schülerinnen und Schüler verpflegt und betreut werden. Die Stadt Zürich will acht Millionen Franken investieren und die umgebaute Kirche mieten.

Die Kirche wird voll sein. So viel ist garantiert, wenn die Stadt Zürich und die Zürcher Kirchgemeinde ihren neusten Plan umsetzen. In der reformierten Kirche Wipkingen sollen ab 2026 Schülerinnen und Schüler vom nahen Schulhaus Waidhalde verpflegt und betreut werden. Die Bibliothek zügelt ebenfalls.

Transparente Kissen

In der Kirche finden seit drei Jahren keine Gottesdienste mehr statt. Die Kirchgemeinde hat sie der Klimajugend vorläufig zu Verfügung gestellt. Für die schulische Nutzung liegt inzwischen eine Machbarkeitsstudie vor. Damit der Raum beheizt und dennoch weiterhin in seiner Gesamtheit wahrgenommen werden kann, sollen transparente Folienkissen den Kirchenraum teilen.

In umgebauten Industriehallen wird dieses Konzept bereits angewendet. Schwebende Kuben, die durch Passerellen miteinander verbunden werden, bieten Raum für die Bibliothek oder Pausenräume.

Stadt als gute Mieterin

Die Stadt rechnet damit, dass der Umbau rund acht Millionen Franken kostet. Der Mietzins beträgt 180 000 Franken pro Jahr. Bereits heute nimmt die Kirchgemeinde 750 000 Franken ein, weil sie Räume an die Stadt vermietet. Oft sind es Kindergärten, Mittagstische und Horte, die sich in kirchlichen Liegenschaften befinden.

In Altstetten wollen Kirche und Stadt ihre Freiräume zusammenlegen, damit ein öffentlicher Park entsteht. Auch am Wipkingerplatz arbeiten Stadt und Kirche eng zusammen. Die Kirchgemeinde saniert das Kirchgemeindehaus und will darin ihr Haus der Diakonie eröffnen, die Stadt soll den Platz neu gestalten und damit die Erschliessung verbessern.

Nachbarschaftshilfe unter Religionen

Mit ihrem Immobilienleitbild hat die Zürcher Kirchenpflege eine Debatte über neue Nutzungen der Kirchen angeregt. Lanciert ist damit auch die Idee, Kirchen für andere Konfessionen und Religionen zu öffnen.

Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist, der das Zürcher Forum der Religionen präsidiert, sieht darin Potenzial: «Wie bei den Reformierten gilt in Judentum und Islam der sakrale Ort als Raum, in dem sich Glaubende versammeln, beten und das Wort Gottes auslegen.» Er verweist auf Kirchen in Deutschland, in denen muslimische Gemeinschaften an hohen Feiertagen feiern dürfen. «Das ist auch in Zürich denkbar.»

Mit der fusionierten Kirchgemeinde sei «ein neuer Dialog möglich», sagt der für das Schuldepartement zuständige Stadtrat Filippo Leutenegger (FDP). Während die wachsende Stadt Raum für Schülerinnen und Schüler sucht, will die Kirche selten genutzte Räume besser auslasten. Für Kirchenpflegepräsidentin Annelies Hegnauer ist das Projekt auch ein Resultat des regelmässigen Austauschs zwischen der Kirchgemeinde und der Stadt.

Nähe ist entscheidend

Die Kirche, die zum Hort wird, wurde 1908 gebaut. Thronte sie einst über dem Dorf Wipkingen auf einem Rebberg, steht die neugotische Kirche nun an der dicht befahrenen Rosengartenstrasse. Für eine schulische Nutzung ist sie gut geeignet, weil der Aussenraum in das Schulareal Waidhalde übergeht.

Die räumliche Nähe sei entscheidend, sagt Stadtrat André Odermatt (SP). Der Hochbauvorsteher bezeichnet den Umbau der Kirche als «mutiges Projekt», weil Zürich Neuland betrete. Der Mietvertrag läuft über 15 Jahre und enthält die Option, das Mietverhältnis zweimal um je fünf Jahre zu verlängern.

Orgel zu verschenken

Kein Platz mehr ist für die Orgel, wenn die Kinder die Kirche in Beschlag nehmen. «Vielleicht findet sie irgendwo in der Welt eine Heimat», sagt Michael Hauser, der in der Kirchenpflege für die Immobilien verantwortlich ist. Er versprach einen «sensiblen Umgang» mit dem Gebäude.

Wie in der Bullingerkirche, in der die Parlamente tagen werden, während das Rathaus saniert wird, sei ein Abschiedsritual vorgesehen. Und auch nach der Vermietung behält sich die Kirche ausserhalb der Schulzeiten ein Nutzungsrecht vor. Die Glocken läuten weiterhin, freilich etwas leiser.

Von den 43 Kirchen in Zürich sollen neben der Bullingerkirche und der Kirche Wipkingen vier weitere neu genutzt werden. Einige dürften in den nächsten zehn Jahren dazukommen, abhängig davon, wie die zehn Kirchenkreise das kirchliche Leben vor Ort gestalten. Gegen «stille Kirchen» hat Hauser nichts einzuwenden. «Offen sollen sie jedoch sein.» Zugleich müsse die Energiebilanz stimmen.