«Es war eine Hauruck-Aktion»

Denkmalpflege

Wegen des drohenden Bergrutsches im Brienz (GR) brachte Restauratorin Karolina Soppa mit einem Team den spätgotischen Flügelaltar der Kirche St. Calixtus in Sicherheit.

Frau Soppa, Sie mussten letzte Woche innerhalb weniger Tage den 500 Jahre alten Flügelaltar aus der Brienzer St. Calixtus-Kirche in Sicherheit bringen. Was ist das Besondere an dem Altar?

Dass er genau für diesen Ort gemacht wurde und dort auch unverändert stehen geblieben ist. Das gibt es äusserst selten. Viele Altäre wurden im Laufe der Jahrhunderte umgebaut, barockisiert, an Museen verkauft oder im schlimmsten Fall entsorgt. Das zweite ist: Das Retabel ist ein Beispiel der Spätgotik, wie es sie kurz darauf nicht mehr gab. Mit einem sehr filigranen, zweistöckigen Zieraufsatz, der so viele Einzelteile besitzt, dass es fast unmöglich ist, zu sagen, wie sie zusammengehören. Es gibt nur noch wenige Flügelaltäre dieser Art in so einem Zustand und an ihrem ursprünglichen Ort, nicht einmal im süddeutschen Raum, wo das Stück ja herkommt, sind sie oft zu finden.

Nun mussten Sie den Altar nach mehreren Jahrhunderten am gleichen Ort abbauen. Wie war das für Sie als Restauratorin?

Wir gehen ja davon aus, dass er wieder an seinen Platz zurückkommt. Es ist eine zeitlich begrenze Evakuierung. Und vermutlich wurde er zumindest schon dreimal für Restaurierungs- oder Kirchenrenovierungsarbeiten auseinandergenommen – zuletzt wohl vor 50 Jahren.

Die Medien verfolgten die Situation in Brienz in den letzten Wochen sehr genau. Wann war Ihnen klar, jetzt muss der Altar tatsächlich raus aus der Kirche?

Es war eine Hauruckaktion. Obwohl die Evakuierung schon länger Thema war. Im Herbst 2021 wurden wir bereits vom Leiter der Denkmalpflege, Simon Berger, angefragt, ob wir eine vorsorgliche Evakuierung durchführen könnten. Damals gab es ein Treffen mit Denkmalpflege, Kirchgemeinde und Dorfgemeinde. Die Dorfbevölkerung bat damals darum, den Altar so lange wie möglich in der Kirche zu belassen. Für die Gläubigen ist das Retabel ja nicht nur ein Kulturgut, sondern imminent wichtig zur Glaubensausübung und für das tägliche Leben. Diesem Wunsch kam der Denkmalschutz nach – zumal es Phasen gab, in denen sich das Abrutschen des Berges verlangsamte. Eine Evakuierung schien nicht mehr so akut. Unabhängig davon schauten wir uns damals aber den Altar schon genauer an, machten hochauflösende Fotoaufnahmen und Konservierungstests, denn wir sollten ihn im Juli/August dieses Jahres auch in der Kirche noch restaurieren.

Nun kam Ihnen doch die Evakuierung dazwischen.

Genau. Am 5. Mai kam der Anruf, da wurde die Gefahrenstufe in Brienz von grün auf gelb umgestellt. Das war ein Freitag und wir haben sofort mit dem Denkmalpfleger telefoniert. Ich informierte meine Studierenden, fragte, wer helfen könne. Innerhalb weniger Stunden sagten alle zu. Über das Wochenende haben mein Kollege, Markus Küffner, und ich vieles an Material und Werkzeug gepackt und geschaut, was noch fehlt. Am Montag erledigten wir noch Einkäufe und am Dienstag ging es los. Fertig waren wir am Donnerstagabend den 11. Mai. Die Evakuierung erhielt nun auch breite Unterstützung durch die Bevölkerung, die Menschen wollten, dass der Altar so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone rauskommt. 

Wie viele Menschen waren an der Evakuierung beteiligt?

Unser Team von der Hochschule der Künste Bern umfasste zwei Dozierende und acht Studierenden. Letztere waren mehrheitlich schon vorher vor Ort gewesen und hatten Vorarbeiten für die Restaurierung geleistet. Etwa geschaut, wie man bestimmte Stellen konsolidieren und reinigen kann. Dieses Vorwissen war sehr wertvoll. Hinzu kamen fünf Männer vom Graubündener Kulturgüterschutz. Simon Berger koordinierte ebenfalls den Einsatz. Die Gerüstbaufirma mit bis zu drei Männern hat nicht nur das Gerüst auf- und abgebaut sondern noch tatkräftig, zum Beispiel den grossen Schreinkasten abbauen geholfen. Nicht zu vergessen die Kirchgemeinde samt Pfarrer, die sehr viel im Hintergrund organisiert hat.

Wie sind Sie vorgegangen?

Am Dienstag wurden erst einmal die Skulpturen aus dem Schrein geholt und anschliessend ein Gerüst aufgebaut. Das Retabel mit seinen 5.6 m steht auf dem Altar und  hat eine Gesamthöhe von 6,80 Metern, da reichen Leitern nicht aus. Zunächst ging es darum, den filigranen Überbau zu sichern. Wir mussten notkonsolidieren, beschriften, dicke Schmutzschichten reduzieren, fotografieren und verpacken. Danach kam der Graubündener Kulturgüterschutz für den Transport und auch um bei den wuchtigen Teilen beim Abbau zu helfen. 

Einer der schönsten seiner Art

Der spätgotische Flügelaltar der katholischen Kirche St. Calixtus in Brienz (GR) gilt als einer der bedeutendsten geschnitzten Flügelaltäre Graubündens. Besonders beeindruckend ist sein Gesprenge, der geschnitzte Aufsatz. Er wurde kurz vor 1519 geschaffen und stammt vermutlich aus der Werkstatt von Ivo Strigel in Memmingen, Deutschland. 1874 überstand er bereits einen Brand, bei dem er jedoch Schäden davontrug. Zuletzt umfassend restauriert wurde er 1901. 1979 wurde er für Kirchenrenovierungsarbeiten teilweise abgebaut und ins Gemeindehaus transferiert. Laut den Akten war damals kein Geld für die notwendige Restaurierung vorhanden. Vorrang hatte die Stabilisierung der Kirchenfundamente.

Was heisst notkonsolidieren?

Ein Transport birgt ja verschiedene Gefahren – auch durch das Auseinandernehmen des Stücks. Farbe könnte abgehen, die Vergoldung abfallen, filigrane Schnitzereien brechen, Nägel ausreissen. Mit Blick auf die Farbe heisst notkonsolidieren, dass man an Stellen, bei denen Farbe absteht, Klebstoff drunter laufen lässt, um die Farbe anzukleben. Oder – wenn der Zeitdruck sehr gross ist – ein Bindemittel aufträgt, welches die Malschicht temporär an Ort und Stelle hält. Das Bindemittel verflüchtigt sich nach einer Weile, so dass man dann später in Ruhe kleben kann. Es war absolute Akkordarbeit, bis zu acht Studenten waren gleichzeitig an den Retabelteilen zu Gange.

In wie viele Teile mussten Sie den Altar zerlegen?

Die einzelnen Pakete mussten ins Transportfahrzeug passen, daran haben wir uns orientiert. Insgesamt haben wir sicher über 100 Teile eingelagert. Manche Teile konnten wir nicht auseinandernehmen, weil sie verleimt waren oder die verrosteten Schrauben und Nägel nicht schnell zu lösen waren. Ein Teil war zehn Zentimeter zu gross für das Transportfahrzeug. Also nahmen wir die Plane ab, der Altar war ja wasserdicht verpackt. Und der Kulturgüterschutz fuhr ganz vorsichtig, wählte die Strassen mit dem besten Belag, bemühte sich, Schlaglöcher zu vermeiden. Der Ort für die Einlagerung wurde auch in der Nähe gewählt, sprich, im Albulatal. Je kürzer der Weg, desto besser.

Wie gut hat der Altar die Evakuierung überstanden?

Genaues kann ich noch nicht sagen. Ich habe bisher nur einen Blick unter die Plane geworfen und das sah alles recht gut aus. Wichtig ist nun, dass das Klima- und Schädlingsmonitoring am neuen Standort durchgeführt wird. Darum kümmert sich nun die Denkmalpflege, mit der Kirch- und der Nachbargemeinde.

Beeindruckt hat mich die Solidarität, die wir und auch die Kirchgemeinde erfuhren. In enorm kurzer Zeit wurde sehr viel auf die Beine gestellt.
Karolina Soppa, Professorin an der Hochschule der Künste Bern

Wurden aus der Kirche noch weitere Gegenstände evakuiert? Wie steht es mit der Orgel?

Uns wurde gesagt, es brauche mehrere Wochen, um die Orgel rauszunehmen und sie würde Schaden nehmen, bei einem Ausbau. Deshalb haben Studierende sie auf Wunsche des Denkmalpflegers sehr genau fotografisch dokumentiert. Nach Ende nahmen die Feuerwehr und der Graubündener Kulturgüterschutz noch Bilder aus schwindelerregender Höhe ab, die etwa mit nur einem Nagel an der Wand befestigt waren und die bei grösseren Erschütterungen heruntergefallen wären. Statuen wurden etwa so gestellt, dass sie auf einer grösseren Fläche standen. 

Wie erlebten Sie diese intensiven Tage persönlich? 

Beeindruckt hat mich die Solidarität, die wir und auch die Kirchgemeinde erfuhren. In enorm kurzer Zeit wurde sehr viel auf die Beine gestellt. Der Denkmalpfleger, der Kulturgüterschutz und nicht zu vergessen die Gerüstbaufirma waren immer sofort zur Stelle. Die Nachbargemeinden halfen dabei, einen Lagerort in der Nähe zu finden. Vom rätischen Museum wurden uns Luftbefeuchter geliehen, damit auch das Klima am neuen Ort stimmt. Viele Kollegen aus der Hochschule wären ebenfalls bereit gewesen zu helfen, wenn zum Beispiel der Kulturgüterschutz nicht hätte kommen können. Und wir wurden sehr gut von der Kirchgemeinde versorgt, mit Brötchen, Kuchen, Pizza und Kaffee. Sie haben sich sehr gefreut, dass wir es noch vor der roten Phase geschafft haben, das Retabel geordnet rauszubringen.   

Wie geht es jetzt für Sie weiter?

Wir werden den Altar wie geplant im Juli und August restaurieren, nur eben nicht in der Kirche, sondern in seiner temporären Unterkunft. Und dann hoffen wir sehr, ihn im September wieder in die Kirche zurückbringen zu können. Neben der Restaurierungsarbeit wollen wir uns auch die Herkunft noch einmal genauer anschauen. Zwar wird der Altar der berühmten Werkstatt von Ivo Striegel zugeschrieben, aber genauer untersucht wurde das noch nicht. Hier ist noch viel Forschungsarbeit notwendig. Wir planen eine Masterarbeit und werden versuchen ein Forschungsprojekt auf die Beine zu stellen.

Expertin auf dem Gebiet der Klebtechnologie

Expertin auf dem Gebiet der Klebtechnologie

Dr. Karolina Soppa ist als Professorin an der Hochschule der Künste Bern tätig. Vorwiegend beschäftigt sie sich mit der Dokumentation, Untersuchung, Konservierung und Restaurierung von Holztafeln, Holzskulpturen und Retabeln. Soppa stammt aus Deutschland sowie Polen und studierte Restaurierung an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. (Foto:zvg)