Recherche 13. September 2021, von Thomas Illi

«Wie im Himmel, so im Rüebliland»

Kirchenreform

Die Aargauer Reformierten wollen ihre Kirche bis zum Jahr 2030 einer umfassenden Reform unterziehen. Ein Aufbruch von biblischem Ausmass, wie der Kick-off-Anlass in Aarau zeigte.

«Wie im Himmel, so im Rüebliland»: Diese rustikale Interpretation der bekannten Unser-Vater-Zeile stammt nicht vom Autor, sondern vom Aargauer Kirchenratspräsidenten Christoph Weber-Berg. Im Editorial der Mitarbeitendenzeitschrift «a+o» beschreibt er, wie ihn das Ernten eines im Hochbeet selbst gezogenen Rüebli an den Slogan für den Prozess der «Kirchenreform 26/30» erinnerte: «Wie im Himmel, so im Aargau».

In der Tat hat man sich bei der Landeskirche Originelles einfallen lassen, um die Kirchenreform an den Start zu bringen: sechs Aufbruchveranstaltungen für «Behördenmitglieder, Mitarbeitende und Interessierte», beginnend mit dem Kick-off in der Stadtkirche Aarau am 17. August und einer anschliessenden Tour durch das ganze Rüebliland, von Reinach über Wohlen und Baden bis Frick und Zofingen. Kirchenräte, die sich unters Volk mischen und in einer Sprechmotette die Geschichte von Abraham interpretieren: von Abraham, den Gott aufforderte, alles stehen und liegen zu lassen und in ein unbekanntes Land aufzubrechen, das er, Gott, ihm noch zuweisen werde. Ein Akkordeonspieler, der sich für diesen Aufbruch ins Ungewisse quasi eine mobile Kirchenorgel umhängt und darauf schon auch mal ein anpackendes Seemanns-Shanty intoniert: «C’mon, sailors, all hands on deck!». Und als Predigerin die junge Kölliker Pfarrerin Claudia Steine­mann, bekannt durch den Blog «Holy Shit», den sie zusammen mit der Zürcher Regenbogenpfarrerin Pris­cilla Schwendimann bespielt.

Aufbruch ins Ungewisse?

So ungewiss wie der Aufbruch Abrahams soll die Kirchenreform allerdings doch nicht werden. Klar ist jedenfalls schon mal der Zeitplan: In einem «partizipativen Prozess» sollen «kleine, vielfältige und generationendurchmischte» Expertengruppen bis 2022/23 eine Lagebeurteilung vornehmen.
Ziel der Auftaktveranstaltungen ist es, Interessierte für diese Arbeitsgruppen zu gewinnen. 2024 soll die Synode einen Grundsatzentscheid fällen und einen Gesetzgebungsprozess bis 2026 in Gang setzen. Darüber wird erneut die Synode befinden, und dann wird der Prozess bis 2030 umgesetzt. Er soll den «Megatrends» der heutigen Gesellschaft folgen, die sich in einem rasanten Mitgliederschwund äussern: Agilität, Individualisierung, Mobilität, Digitalisierung, Säkularisierung. Man sucht beispielsweise nach Mitgliedschaftsformen, «die das Interesse und die persönlichen Bezüge der Mitglieder berücksichtigen und die nicht zwingend an den Wohnort gebunden sind».

Frischer Wind vom Jura her

Solcherlei wird am Startanlass in Ad-hoc-Arbeitsgruppen andiskutiert, wofür sich die Interessierten nach draussen vor die Stadtkirche begeben – wo tatsächlich ein frischer Wind weht, in Form einer für den August atypischen, unangenehm kühlen Bise aus Richtung Jura. Die Gespräche in den Gruppen erinnern allerdings stark stark an ähnliche Anlässe, die der Autor in seiner «reformiert.»-Zeit schon verschiedentlich erlebt hat.
In der Gruppe «Jugend» meint ein kaum 20-Jähriger, ganz entgegen dem Megatrend, er schätze die heutige Kirche, weil sie in der digitalen Welt noch immer einen analogen Raum darstelle, wo Menschen sich real begegnen. Er hoffe, dass das in der Kirche 2030 auch noch so sein werde. Jürg Hochuli, Bereichsleiter Gemeindedienste in der Landeskirche, sieht da keinen Widerspruch: «Es geht ja nicht darum, Bewährtes, das auch heute noch passt, über Bord zu werfen. Gerade das Element Gemeinschaft, das eine Stärke, eine Marke von Kirche ist, wird nicht ersetzt, sondern ergänzt mit neuen Formen.»

Jugendliche gewinnen

Marc Zöllner, der neue Mann in der Fachstelle Gemeindeentwicklung, ist einerseits erfreut, «dass wir mehrheitlich Jugendliche mit einer intensiven christlichen Bindung erreicht haben». Anderseits hätten aber «viele Jugendliche eine glaubens- und kirchenkritischere Haltung». Sie erwarten laut Zöllner «ein stärkeres politisches und soziales Engagement etwa in Umweltthemen. Da für uns als Landeskirche Offenheit ein wichtiges Merkmal ist, würden wir auch diese Jugendlichen noch für den weiteren Prozess gewinnen.»
Wird das gelingen? «Wir möchten uns am Willen Gottes orientieren, damit im Rüebliland auch in Zukunft ein gutes Klima für grosse und kleine Wunder herrscht», schreibt Kirchenratspräsident Weber-Berg in seinem «Rüebliland-Editorial».