Recherche 08. Oktober 2015, von Francesca Trento

Mit der eigenen Unzulänglichkeit vollkommen sein

Theologie

Wer das Leben als Bruchstück eines Ganzen sieht, kann Trost darin finden. Das vermittelte der Theologie-Professor Kristian Fechtner an der Paulus-Akademie.

Menschen sind nicht nur mit schönen, glücklichen Ereignissen konfrontiert, sondern auch mit zerbrochenen Hoffnungen, nur halb Gelungenem und verspielten Chancen. Wer das Leben als Fragment versteht, nimmt es als Bruchstück eines Ganzen.

Doch sind Menschen nicht immer auf der Suche danach, perfekt zu sein, alles richtig zu machen? Kristian Fechtner, ehemaliger Assistent Henning Luthers und Professor für Theologie an der Universität Mainz, ging dieser Frage in seinem Referat nach.

Unruhige Identität. Die Vorstellung, dass unser Ich in sich harmonisch sei, stamme von dem Psychoanalytiker Erik H. Erikson, sagt Fechtner. Erikson ging von einem Bewusstsein aus, in dem Fühlen und Denken harmonisch verbunden sind.

Henning Luther entwarf ein anderes Modell: Für ihn war die menschliche Identität nicht harmonisch, sondern unruhig. Was uns heute zustösst, erleben wir morgen schon anders. Unser Erleben ist nicht konstant, es ist in steter Bewegung.

Und hier kommt das Fragment ins Spiel: Fechtner definierte es als nicht vollkommenen, nicht gelungenen Lebensabschnitt. Das seien vor allem schmerzliche Erfahrungen, Enttäuschungen und unerfüllte Sehnsüchte. Also: Brüche, Risse im Leben. Dafür steht auch das lateinische «frangere», das brechen bedeutet.

Besserwisserische Lektüre-Flut. Die Suche nach Ganzheitlichkeit liegt heute im Trend. Der Mensch strebt immer mehr nach äusserer Perfektion und innerer Ausgeglichenheit zugleich.

Es gibt über jedes Thema einen Ratgeber: «Richtig essen», «Richtig Sport machen», ja sogar darüber, wie man richtig stirbt, gibt es besserwisserische Lektüre. Ein riesiger Druck lastet auf der heutigen Gesellschaft. Längst ist das alte «Nobody is perfect» abgelöst worden vom Zwang zur Perfektion.

Vielleicht habe Luther gerade deshalb das Leben als Fragment verstanden. Darin dürften Fehler nicht nur passieren – ja, sie sind sogar Voraussetzung. Für den Menschen unter Perfektionsdruck bedeute dies eine gewaltige Entlastung.

Das Streben nach Ganzheit müsse deshalb nicht aufgegeben werden, meinte Fechtner. Denn nach Luther war das Fragment keineswegs das Gegenteil des Ganzen, sondern es verwies sogar darauf. Und obwohl er sich anscheinend dagegen sträubte, es «tröstlich» zu nennen, fand Fechtner es genau das: Es sei tröstlich zu wissen, nicht vollkommen sein zu müssen.

Anders gesagt: Der Mensch ist zwar göttlich, da er nach Gottes Ebenbild geschaffen ist, aber er ist nicht Gott. Und das ist tröstlich.

Perfide Kampagne #ImPerfect. Der Druck, «alles ja richtig zu machen und ja super auszusehen» ist in den Medien omnipräsent. Vor allem die Modebranche giesst Öl ins Feuer des Verlangens nach Perfektion. Bei den Konsumenten sorgt sie damit vor allem für Frustration.

Fechtner erwähnt die Kampagne der Modeunternehmens «Esprit». Dabei wirbt «Esprit» mit #ImPerfect dafür, dass jeder und jede, auch Nicht-Models, auf ihre Art und Weise perfekt seien (Links zur Kampagne: siehe Textende). Marketingmässig ein sehr ausgeklügelter Spot. Denn #ImPerfect heisst sowohl «Nicht-Perfekt» als auch «Ich bin perfekt».

Auf den ersten Blick möge die Kampagne «pfiffig» sein, sagt Fechtner, da ihre Botschaft suggeriere: «Endlich stellt die Modebranche auch normal Sterbliche ins Rampenlicht». Allerdings sei sie auf den zweiten Blick perfide, urteilt Fechtner. Zwar wolle das Unternehmen «Esprit» damit zwar allen Mut machen, sich zu zeigen und zu ihrem Äusseren zu stehen.

Zugleich disqualifiziere die Kampagne die natürlichen Schamgefühle der Menschen als überflüssig und ablegbar. Die Menschen, die sich nicht trauten, ein Selfie von sich zu machen und einzuschicken, würden dadurch automatisch in der Kategorie «Nicht-Perfekt» landen. Dazu passe auch, sagt Fechtner, dass im Trailer der Kampagne einzig «schöne» Menschen gezeigt werden.

Fragment als Gegenteil gelingenden Lebens. Dass das Fragment das Gegenteil eines vollkommenen Lebens ist, stehe genau für diese Schwierigkeit, meinte Fechtner. Indem der Mensch seine eigene Unzulänglichkeit in sein Ich integriere, habe er die Chance, perfekt zu sein. Sprich: Finde dich damit ab, dass du nicht perfekt bist. Du bist eben dadurch perfekt – und kein bisschen arrogant. Glück gehabt!

Die Veranstaltung «Leben als Fragment – Gegen den Zwang zur Vollkommenheit» wurde von der Paulus-Akademie Zürich in Kooperation mit der Reformierten Kirche des Kantons Zürich organisiert.

Zur Esprit-Kampagne: Trailer, Kampagne für «normale Menschen»

(Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».)