Recherche 09. Oktober 2023, von Felix Reich

Die heilsame Kunst des Zuhörens

Kultur

Jackie Brutsche hat mit «Las Toreras» einen persönlichen Film gedreht, der weit über sich hinausweist. Er erzählt von Schuldzuweisungen und dem Licht der Versöhnung.

Jack Torera ist stark. Die Kunstfigur hat sich Jackie Brutsche zugelegt. Sie spielt in Rockbands, tritt in Theaterstücken und Performances auf. Nun schreitet sie durch die wilde Landschaft Spaniens und erzählt von einem schmerzhaften Geheimnis, das im Dunkeln des Schweigens liegt.

So beginnt der Film «Las Toreras» der Künstlerin Jackie Brutsche. Am 5. Oktober wurde er am Zurich Film Festival mit dem Filmpreis der Zürcher Kirchen ausgezeichnet.

Der Trotz hilft

Als Brutsche zehn Jahre alt war, nahm sich ihre Mutter das Leben. Erinnerungen sind ihr kaum geblieben, die Mutter hatte Wochen und Monate in Kliniken verbracht. Über den Suizid wurde in der Familie kaum gesprochen. Und Brutsche selbst entwickelte einen selbstheilenden Trotz: Das Unglück sollte ihr Leben nicht überschatten. Kraft dazu fand sie in der Kunst. Und sie wusste, dass der einzige Weg, sich dem belastenden Geheimnis anzunähern, wiederum die Kunst war.

Ökumenische Jury

Der Filmpreis der Zürcher Kirchen wird von der reformierten und der katholischen Kirche getragen und ist mit 10 000 Franken dotiert. Bewertet werden Beiträge aus der Fokus-Reihe am Zurich Film Festival. Der Kirchenrat Andrea Bianca präsidierte die Jury, der auch Tobias Grimbacher, Sophia Rubischung, Baldassare Scolari und Brigitta Rotach angehörten.

Im Film tastet sie sich vor zum Schmerz, für den bisher die Worte fehlten. Mit ihrem Vater steigt sie in den Estrich, sucht nach den Briefen, Zeichnungen und Tagebüchern der Mutter. Sie reist nach Spanien in das Dorf, in dem ihre Tante und ihre beiden Onkel noch immer wohnen. Sie spricht mit den Schwestern des Vaters und mit ihrem Bruder, der älter ist als sie und mehr mitbekam von der Krankheit der Mutter und auch stärker darunter litt.

Der liebevolle Blick

In den Gesprächen entfalten sich die zuweilen gegensätzlichen Perspektiven jener Menschen, die der Mutter nahestanden. Ohnmächtig mussten sie zusehen, wie die psychische Erkrankung sie veränderte. Auf den Tod folgten die Schuldzuweisungen. 

Wie sich Brutsche in diesem komplexen Kraftfeld aus Schmerz und Vorwürfen bewegt, zuhört, nachfragt, ohne zu urteilen, verdient höchste Bewunderung. Sie führt keinen Protagonisten vor und behält stets einen liebevollen Blick, selbst wenn sich die Erinnerungen unversöhnlich gegenüberstehen. Dass er Widersprüche zulässt und erst gar nicht versucht, Partei zu ergreifen oder Positionen durch Interpretation zu gewichten, ist die grosse Stärke des künstlerisch fabelhaft inszenierten Films.

Die Maske fällt

Ganz am Ende gelingt Brutsche gar etwas wie Versöhnungsarbeit. So scheint zumindest in einem Gespräch Verständnis auf für die vermeintliche Gegenseite. Die Einsicht führt hinaus aus dem Gefängnis des schmerzhaften Verlusts. Überhaupt erzählt die Filmemacherin, die in der Zürcher Wohlgroth-Szene zur Kunst fand und heute in Bern lebt, eine Befreiungsgeschichte, indem sie dem Unglück eine Sprache gibt.

Die Begegnungen mit der Mutter verlegt Brutsche in ihre Kunstwelt, unterlegt mit Briefzitaten und Tagebucheinträgen, die in ihrer Poesie literarische Qualität haben. Sie berichten von Träumen und Ängsten, von der Liebe und der Ohnmacht, zuletzt von der Panik vor dem Verlust des Ichs. Am Ende lässt die Mutter die Maske fallen, weil eben auch die Krankheit, die von ihr Besitz ergriff, ein Gesicht bekommt.

Von der Last befreit

«Las Toreras» führt die Kunst des Zuhörens vor und zeigt, wie existenziell das Gespräch sein kann, wenn Urteile ausbleiben. Brutsches Sicht ist geprägt von aufrichtiger Menschenliebe und empathischer Aufmerksamkeit. Sie ermöglicht, dass sich Jack Torera selbst befreit von der erdrückenden Last der Sprachlosigkeit und am Meer den Schmerz und die Erlösung hinauszuschreien vermag in die Brandung.