Recherche 22. Dezember 2022, von Marius Schären

Notlage in der Psychiatrie beschäftigt die Kirchen

Gesundheit

Andern helfen, sich selbst zu stärken: Das sieht die Pfarrerin und Sozialarbeiterin Helena Durtschi als kirchliche Aufgabe. Vor allem in der aktuellen Lage akuter Not.

Allein die Zahlen und Fakten sind alarmierend, die in den letzten Monaten und ganz besonders in den letzten Tagen öffentlich wurden. Die Universitären psychiatrischen Dienste (UPD) in Bern etwa warnten an einer Medienkonferenz am 19. Dezember, es sei eine weitere Eskalationsstufe erreicht worden: Das Ambulatorium der Kinder- und Jugendpsychiatrie könne keine neuen Betroffenen mehr aufnehmen.

Psychische Gesundheit ist auch unter Pfarrpersonen, Sozialdiakoninnen und Katecheten ein großes Thema.
Helena Durtschi, Pfarrerin und Sozialarbeiterin

Das Notfallzentrum sei nicht selten mit 200 Prozent der eigentlichen Kapazität belegt. Von Oktober bis Dezember habe es eine weitere Zunahme bei den Notfällen und akuten Krisen gegeben. Gemäss Bundesamt für Statistik sind psychische Störungen bei den Zehn- bis 24-Jährigen der häufigste Grund für Einweisungen ins Spital. Und im ersten halben Jahr verzeichnete die Dargebotene Hand (Telefon 143) fast 40 Prozent mehr Anrufe zum Thema Suizid verglichen mit dem gleichen Zeitraum vor der Covid-Pandemie. Und der Anstieg ist nicht allein bei den jüngeren Menschen zu verzeichnen.

Auch in der Bibel Thema und Stigma

Für Helena Durtschi waren ihre Erfahrungen in der Arbeit mit Menschen und in der Psychiatrie schon zur Zeit der Covid-Pandemie ein Auslöser dafür, etwas zu unternehmen. Die Pfarrerin und Sozialarbeiterin ist bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn (Refbejuso) in der Sozialdiakonie zuständig für Bildung, zudem hat sie mehrere Jahre in der Psychiatrie gearbeitet. Sie sagt: «Ich habe beobachtet, dass die psychische Gesundheit auch unter Pfarrpersonen, Sozialdiakoninnen und Katecheten ein großes Thema ist. Und es ist immer noch auch ein grosses Tabu.»

Ein Erste-Hilfe-Programm mit australischen Wurzeln

Das Kursprogramm Ensa wurde 2019 in der Schweiz von der Stiftung Pro Mente Sana mit Unterstützung der Beisheim Stiftung lanciert. Es hat seinen Ursprung im Programm «Mental Health First Aid» von Betty Kitchener und Tony Jorm: Sie haben diesen Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit ab 2000 in Australien entwickelt. Ihr Ziel war, die Idee von den bekannten Nothelferkursen in den Bereich psychischer Erkrankungen zu übertragen. Das Wort «ensa» stammt aus einer der über 300 Sprachen der australischen Ureinwohner und bedeutet «Antwort».

Das Programm soll auch Laien befähigen, helfen zu können, wenn bei nahestehenden Personen psychische Schwierigkeiten auftreten, eine bestehende psychische Beeinträchtigung schlimmer wird oder eine akute psychische Krise ausbricht. Ensa soll damit auch einen Beitrag zur Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen leisten.

So fand Helena Durtschi: Das geht die Kirchen auch etwas an. Schliesslich sei Krankheit grundsätzlich ein grosses Thema in der Bibel, auch psychische Erkrankungen. «Und auch dort sind diese mit einem Stigma behaftet.» Ihrer Ansicht nach ist es deshalb umso passender, dass sich auch die Kirchen engagieren: «Schliesslich ist das immer deren Aufgabe, wo es Stigmatisierungen gibt.»

Erste Hilfe bei psychischer Not

Durtschi stiess auf die Erste-Hilfe-Kurse namens Ensa der Stiftung Pro Mente Sana (für psychische Gesundheit). Diese vermitteln Kenntnisse, die auch Menschen ohne Fachausbildung im Bereich Gesundheit helfen, bei anderen psychische Krisen zu erkennen und Betroffene zu unterstützen (mehr dazu in der Infobox). Seit Beginn 2022 ist die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) Vertragspartner von Pro Mente Sana für die Ensa-Kurse. 

Für die Pfarrerin und Sozialarbeiterin ist klar: «An sich könnten die Kirchen mehr leisten, aber es ist eine Frage der Ressourcen.» Der Bedarf sei jedenfalls sehr gross. Kürzlich hätten sie einen Kurs im Emmental doppelt geführt. Und: «Dieses Jahr hatten wir insgesamt 100 Kursteilnehmende, für nächstes Jahr haben wir allein bis im März bereits über 50 Anmeldungen.»

Frühintervention ist sehr wichtig

Klar erhielten die kirchlichen Mitarbeitenden mit den Kursen keine Therapie-Ausbildung, hält Helena Durtschi fest. «Es geht hier aber vorab um die Frühintervention. Aber diese ist sehr wichtig.» Psychische Gefährdungen oder Erkrankungen möglichst früh zu erkennen, die Menschen zu begleiten und dann mit den richtigen Fachstellen zu vernetzen, helfe schon viel.

Meine Erfahrung zeigt, dass religiös-existenzielle Fragen ein grosses Thema sind bei psychisch Erkrankten.
Helena Durtschi, Pfarrerin und Sozialarbeiterin

Die bisherigen Erfahrungen zeigen gemäss Durtschi, dass die Kurse viel auslösen: «Es entstehen auch immer viele gute Gespräche.» Mit Betroffenen in Kontakt kommen die Kursteilnehmenden bei ihrer Arbeit mit den Menschen. Durch die Weiterbildungen lernen sie, Zeichen zu erkennen und darauf zu reagieren. Das Spektrum ist breit, wie Helena Durtschi sagt: «Wir nehmen die häufigsten Krankheiten auf wie Depression, bipolare Störungen, Angststörungen, Panikattacken, Traumata, Suchterkrankungen und Psychosen.»

Religiöse Fragen sind für viele Erkrankte zentral

Ausserdem unterstreicht ein weiterer Aspekt die Wichtigkeit des kirchlichen Engagements im Bereich der psychischen Gesundheit: «Meine Erfahrung zeigt, dass religiös-existenzielle Fragen ein grosses Thema sind bei psychisch Erkrankten.» Und das sei unter anderem auch im Buch «Psychotherapie und Spiritualität» von drei Psychiatern so bestätigt; bei mindestens 70 Prozent der Betroffenen verzeichneten die Fachleute solche Fragen – auf die aber meistens wenig eingegangen wird.

Die Pfarrerin und Sozialarbeiterin hofft darauf, dass rasch mehr Ressourcen eingesetzt werden können für Prävention, erste Hilfe und Behandlungen. Doch sie äussert Skepsis: «Die Situation zurzeit ist eine Katastrophe, auch politisch. Gerade haben sie etwa im Grossen Rat im Kanton Bern eine Budgeterhöhung abgelehnt.»