Recherche 25. April 2022, von Mayk Wendt

Eine weite Reise zwischen Ohnmacht und Hoffnung

Krieg

Zwei Wochen nach Kriegsbeginn in der Ukraine macht sich Oksana Sgier aus Landquart auf den Weg zur polnisch-ukrainischen Grenze. Sie will ihre Mutter aus dem Land holen.

Sorgfältig packt Oksana Sgier verschiedene Lebensmittel in den Karton. Vielleicht wird eine der zahlreichen Schachteln mit Hilfsgütern bei ihrer Mutter ankommen. Das hofft sie zumindest. Während die gebürtige Ukrainerin seit Kriegsbeginn humanitäre Hilfsgüter in Chur entgegennimmt und sortiert, befindet sich ihre 64-jährige Mutter im rund 2300 Kilometer entfernten Tschernihiw in der Nordukraine.

Das ist die gleiche Distanz wie ins portugiesische Lissabon. Ein Katzensprung innerhalb Europas also. Seit Tagen ist die malerische Stadt unter dem Beschuss der russischen Streitkräfte. Seit Tagen hat Oksana keinen Kontakt mehr zur Mutter. Seit Tagen lebt sie in der Hoffnung, ihre Mutter wiederzusehen.

Sie will nicht gehen

Eine LKW-Ladung mit Medikamenten, Hygieneartikeln und Lebensmitteln soll unterdessen zum ersten Mal direkt von Chur nach Tschernihiw transportiert werden. Organisiert hat das der Verein Ukraine-Hilfe Graubünden. Oksana will selbst an die polnisch-ukrainische Grenze fahren und sich ein Bild machen, um sicherzugehen, dass die zahlreichen Hilfsgüter dort ankommen, wo sie dringend benötigt werden. Mit im Gepäck hat sie auch die leise Hoffnung, eventuell ihre Mutter mit in den Kanton Graubünden nehmen zu können.

Währenddessen verbringt ihre Mutter meist lange Tage in ihrer Wohnung in einem neunstöckigen Wohnhaus in Tschernihiw. Strom und Gas hat sie seit Tagen nicht mehr. Lebens­mittel holt sie sich unregelmässig bei Verteilungen auf der Strasse. Immer vorausgesetzt, es herrscht kein Fliegeralarm und keine Ausgang­sperre. Das Land wolle sie nicht verlassen, sagte sie der Tochter immer wieder am Telefon. Das war , bevor die Stadt massiv unter Beschuss geraten ist.

Hilfsgüter kommen an

Als Oksana im polnischen Przemys´l, direkt an der ukrainischen Grenze, ankommt, nimmt sie den Bündner Sattelschlepper mit den Hilfsgütern in Empfang und koordiniert das Verladen. Dieser Lastwagen wird nun wie einige andere direkt mit den Hilfsgütern weiter in die Nordukraine fahren. Von dort meldet sich unerwartet ein Nachbar von Oksanas Mutter. Der Wohnblock nebenan sei nach einem Raketeneinschlag völlig zerstört, berichtete der Mann. 56 Personen wurden dabei getötet. Die Frage, ob er die Mutter gesehen habe, verneint er mit leiser Stimme.

Ein Volk hält zusammen

Fast zeitgleich sind im Prättigau zahlreiche Menschen aus Tschernihiw angekommen. Die Kirchgemeinden Prättigau haben den Transport von rund 50 Flüchtlingen nach Graubünden organisiert. Durch sich daraus ergebende Kontakte kann Oksana jemanden zur Wohnungstür der Mutter lotsen. Die nächtlichen Angriffe haben die Mutter nun doch überzeugt zu flüchten.

Einmal mehr zeigt sich, was diesen Krieg neben den schrecklichen Gräueltaten ausmacht: den starken Zusammenhalt der Ukra­inerin­­nen und Ukrainer. «Jeder tut, was er kann», sagt Oksana nun fest entschlossen, ihre Mutter an der Grenze zu treffen.

Mit einem kleinen Bus konnte die Mutter von Tschernihiw nach Tscherkassy, südlich von Kiew, mitfahren. Dabei die Orientierung zu behalten, war für sie nicht immer leicht. «Alle Ortstafeln, Strassenschilder und Hausnummern sind demontiert», erklärt die Mutter. Im ganzen Land hätten Zivilisten mit dem Abbau der Beschilderungen be­gonnen, damit die russischen Soldaten die Orientierung verlieren. «Schon Wochen vor Kriegsbeginn haben wir bemerkt, dass etwas nicht stimmt», sagt die Mutter. Zum Beispiel, weil auf mehreren Tankstellen und industriellen Anlagen mit Leuchtfarbe Markierungen angebracht wurden. Das seien Markierungen für die späteren Luftangriffe gewesen, meint sie.

In Tscherkassy verbringt Oksanas Mutter zusammen mit ein paar anderen Flüchtenden die Nacht in einer Kirche, bevor es weiter in den Westen des Landes geht. Immer wieder muss der kleine Transporter an Checkpoints halten. Am letzten Kontrollpunkt wird die Gruppe wieder gestoppt, und ein junger Soldat sagt auf Russisch: «Warten Sie!» Die Menschen im Bus zittern. «Wir dachten, das war es», sagt die Mutter mit Tränen in den Augen. Doch der junge ukrainische Soldat kommt mit ein paar Süssig-keiten für die Kinder im Bus zurück und wünscht alles Gute.

In letzter Sekunde

Am Grenzübergang im polnischen Korczowa kann Oksana ihre Mutter endlich in die Arme nehmen. Kurz darauf bekommen sie die Information, dass die letzte Brücke zum Verlassen der Stadt Tschernihiw gesprengt wurde.