Recherche 22. November 2021, von Marius Schären

«Religion wird extrem tabuisiert»

Gesellschaft

Wenn Menschen existenzielle Krisen haben, landen sie bei Sozialarbeitenden. Spiritualität erhält dabei aber kaum Platz. Das muss ändern, sagt Professorin Stefanie Duttweiler.

Warum sind Sie das Thema «Religion und Spiritualität» in der sozialen Arbeit angegangen?

Stefanie Duttweiler: Mir ist aufgefallen, dass das Thema in der Schweiz extrem tabuisiert wird; es ist heikel, es ist Privatsache. Aber ich interessiere mich dafür, denn obwohl immer weniger Menschen Mitglied einer Kirche sind, ist Religion oder Spiritualität für viele wichtig, gerade in existenziellen Fragen. So wollten wir herausfinden: Wie gehen Sozialarbeiterinnen und -arbeiter damit um? Wie greifen sie es auf?

Und wie machen sie das?

Unterschiedlich. Von den vier Typen (Kasten unten) gibt es bei den «Dialogpartnern» und «Unbefangenen» eine grosse Offenheit für das Thema, da sie einen persönlichen Bezug dazu haben. So kann es Raum erhalten, sofern es von den Beratenen selbst ins Gespräch gebracht wird. Die «Selbstbeherrschten» sehen sich selbst zwar als religiös, wollen aber eine klare Grenze zwischen dem Fachlichen und dem Spirituellen sowie Religiösen ziehen. Die «Dienstleister» schliesslich sehen es nicht als ihre Aufgabe, das Thema in die Beratung einzubeziehen. Sie fühlen sich auch fachlich nicht dafür zuständig.

Stefanie Duttweiler, 54

Die promovierte Soziologin ist Dozentin für Soziale Arbeit an der Berner Fachhochschule. Sie untersuchte in einem «superkleinen Projekt» das Thema Religion und Spiritualität in der Beratung. In den Interviews zeigten sich vier Typen von Sozialarbeitenden: Dialogpartner, Selbstbeherrschte, Unbefangene und Dienstleister. Zudem beobachtete sie eine «verkürzte Professionalität durch Tabuisierung».

Was ist Ihr Fazit?

Es ist professionell, wenn Sozialarbeitende Religion und Spiritualität einbeziehen. Eine vom Typ Dialogpartnerin sagte: Sie höre einfach zu, und sie plane nicht, was sie hören werde. Schöner kann man soziale Arbeit gar nicht zusammenfassen! Das mag wie eine Selbstverständlichkeit erscheinen, aber es ist ein klarer Unterschied zum Typ Dienstleister. Auffallend ist, dass Dialogpartner und Unbefangene eine re­ligionspositive Haltung nicht als Gegensatz zur Professionalität als Sozialarbeitende begreifen. Für sie ist es vielmehr ein wesentlicher Teil ihrer Berufsausübung.

Warum kommt die kirchliche Sozialarbeit so gut weg?

Tatsächlich kann sie nach unseren Erkenntnissen eine fachlich fundierte Sozialarbeit leisten. Selbst wenn Menschen einfach mit materiellen oder administrativen Fragen kommen: Da sie um den Hintergrund der Beratungsstelle wissen, bringen sie den Beratenden in hohem Mass Vertrauen entgegen. Sie erwarten eine besondere Wertorientierung und Menschlichkeit – auch jene, die sich selbst nicht als religiös verstehen oder der Kirche sogar ablehnend gegenüberstehen. Dieses Vertrauen hat einen grossen Einfluss auf das, was in der Beratung passieren kann.

Wenn wir davon ausgehen, dass sich soziale Arbeit anwaltschaftlich für Menschen einsetzt, müsste das Thema Religion und Spiritualität unbedingt mehr einbezogen werden. Es braucht Weiterbildung, Sensibilität und Professionsentwicklung.
Stefanie Dutteiler, Professorin für Soziale Arbeit

Und auf der Seite der Beratung?

Zwar wissen alle Interviewten, dass sich Klientinnen und Klienten gestört fühlen können durch die Thematisierung von Religiosität und Spiritualität. Bei den christlichen Sozialarbeitenden führt das dann zu einer eindeutigen Abgrenzung gegenüber einem Missionieren.

Aber je nach Institution, wo sie arbeiten, sind die Konsequenzen unterschiedlich. Ist die Thematisierung begünstigt, offen oder unterstützend – wie in der kirchlichen Beratung oder im Migrationsbereich –, mindert das die Angst. Besonders, da sie sich im Team darüber austauschen können. In anderen Stellen wird die Angst gegenüber dem Thema eher verstärkt.

Was heisst das für Sie als Ausbilderin in der sozialen Arbeit?

Wenn wir davon ausgehen, dass sich soziale Arbeit anwaltschaftlich für Menschen einsetzt, müsste das Thema Religion und Spiritualität unbedingt mehr einbezogen werden. Es braucht Weiterbildung, Sensibilität und Professionsentwicklung. Und es braucht Forschung, um herauszufinden, was den Beratenden hilft. Klar ist, dass der Themenbereich für viele Beratungssuchende wichtig ist, auch dann, wenn er nicht oder nicht sofort zur Sprache kommt.