Recherche 12. September 2021, von Françoise Funk-Salamí

Der Missionar bleibt auf seinem Sockel

Geschichte

Grönland debattiert über das Erbe des Missionars, der vor 300 Jahren die Inuit zum Protestantismus bekehrte. Sein Denkmal wurde nicht gestürzt, doch eine Feier fiel aus.

Die Wellen des Nordatlantiks umspülen sie mit sanften Bewegungen. In der Sprache der Grönländer wird sie «Sassuma arnaa» genannt, was «die Frau dort unten» bedeutet.

Die Mutter des Meeres wurde «von den bösen Taten der Inuit belästigt», so erzählt es die Legende. Zur Strafe hielt sie alle Jagdtiere der Inuit mit ihren feurigen Haaren auf dem Meeresgrund fest. Der Schamane Angakkoq gab den Menschen ihre Lebensgrundlage zurück, indem er der Meeresmutter die Haare kämmte und die Tiere, die sich darin verfangen hatten, wieder befreite.

Die Mutter des Meeres wacht als Granitskulptur über den Kolonialhafen in Nuuk. In den kühlen Morgenstunden verschwindet sie aber jeweils in der Flut. Von den Gezeiten unberührt bleibt oben auf einem Hügel die Statue eines Mannes, der Grönland geprägt hat wie kein zweiter: Hans Poulsen Egede.

Mit Farbe beschmiert

Das Denkmal wurde zum 200. Jahrestag der Ankunft des Missionars 1921 gebaut. Die überlebensgrosse Statue in der Hauptstadt Grönlands steht neben der Erlöserkirche aus rotem Holz und ist nach Süden zur «Insel der Hoffnung» ausgerichtet, wo der lutherische Pfarrer aus Dänemark die erste Mission gründete.

Ein bisschen wie Luther

Am 3. Juli 1721 erreichte Hans Egede die Küste Grönlands. Eigentlich war er auf der Suche nach den Wikingern, gefunden hat er die Inuit. 1728 gründete er die Kolonie Godthåb (Nuuk). Mit der Missionierung entstanden Handelsstationen an der Westküste. Kulturelle Werte der Inuit wurden mehrheitlich unterdrückt, etwa Trommelgesänge und Tätowierungen.

Mit der Vorarbeit seines Vaters übersetzte Paul Egede die Bibel ins Grönländische. Zwischen 1733 und 1900 wirkten auch die Herrnhuter Missionare in Grönland, Samuel Kleinschmidt gilt als Begründer einer einheitlichen, westgrönländischen Sprache.

Am 21. Juni 2020, Grönlands Nationalfeiertag, wurde sein Denkmal mit Farbe beschmiert, auf dem Sockel das Ultimatum: «Decolonize». Der Denkmalstreit war in Grönland angekommen. Kritiker fühlen sich provoziert, weil ein Missionar als Vertreter der Kolonialmacht einen derart dominanten Platz einnimmt. Sie verlangten, dass die Statue ins Museum kommt.

Kolonialist oder Wohltäter

Doch nicht alle Grönländer sehen im Denkmal ein Symbol für Kolonialismus und Unterdrückung. Egede gilt vielen als Wohltäter, der dem Land den christlichen Glauben brachte, dem sich viele Einwohnerinnen und Einwohner verbunden fühlen. Zudem gelang es dem Missionar einst, der Blutrache Einhalt zu gebieten, die damals in Grönland noch praktiziert worden war.

Salomon Simonsen ist in Ostgrönland aufgewachsen, heute lebt er in Dänemark. «Die ältere Generation ist sehr religiös und sieht in Egede den Mann, welcher den Wohlstand nach Grönland gebracht hat», sagt der 26-Jährige.

Beinahe die gesamte Bevölkerung gehört zur evangelisch-lutheranischen Kirche. «Viele Grönländer haben aber auch den Glauben an die alten Mythen nicht ganz verloren, die Rituale bleiben im Alltag lebendig», sagt Salomon.

Verhängnisvolle Siedlungspolitik

Hinter den historischen Häusern am Hafen in sattem Gelb erheben sich monotone, heruntergekommene Plattenbauten mit roten Holzbalkonen. Sie prägen Nuuks Stadtbild und erinnern an ein dunkles Kapitel der dänischen Kolonialgeschichte. In den 1960er- und 1970er-Jahren betrieb Dänemark in Grönland eine rigide Siedlungspolitik, um die Fischerei zu intensivieren.

Unweit des Hotels Hans Egede klafft eine Lücke in den Häuserzeilen. In einem Schanzenpark vergnügen sich Jugendliche auf Bikes und Skateboards. Bis 2012 stand hier der «Blok P». In 320 Wohnungen waren rund 570 Leute untergebracht. Sie waren aus der Vertrautheit ihrer Dörfer gerissen worden. Folgen waren Identitätsverlust, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und eine hohe Selbstmordrate. Probleme, die nicht verschwunden sind.

In der Innenstadt befindet sich das Kulturzentrum Katuaq, was auf Grönländisch «Trommelschläger» heisst. Die Architekten des 1997 errichteten Gebäudes liessen sich vom Lichtspiel der Nordlichter auf dem Eis und dem Schnee inspirieren.

Subtiler Rassismus

Im Haus arbeitet Kuluk Helms für das «Nuuk Nordisk Culture Festival». Sie ist in Grönland und in Dänemark aufgewachsen. Ihre Mutter ist grönländische Inuk, ihr Vater Däne. Der kolonialen Vergangenheit und Gegenwart beider Länder steht Kuluk kritisch gegenüber. Im Alltag erlebe sie immer wieder subtilen Rassismus, erzählt sie und erkennt auch heute noch Folgen der kolonialen Unterdrückung in der grönländischen Gesellschaft. Als Beispiel nennt sie den Zugang zur Hochschulbildung. «Einzig wer die dänische Sprache beherrscht, kann eine Universität besuchen.»

Der Kampf für die Unabhängigkeit ist kein Kampf gegen das Christentum.
Jesper Kunuk Egede

Ebenfalls im Stadtkern liegt die Hans-Egede-Kirche. «Sie gaben ihr Leben, um unser Land und Dänemark aufzubauen», steht da auf einem Gedenkstein über die Missionare. 1971 wurde er eingeweiht, als die antikoloniale Bewegung bereits stark war, die für die grönländische Sprache und Kultur kämpfte. 1979 erhielt Grönland die Selbstverwaltung, 30 Jahre später folgte dann die eigene Regierung und eine weitgehende Autonomie von Dänemark.

Neu erwachtes Selbstbewusstsein

«Der Kampf für die Unabhängigkeit ist kein Kampf gegen das Christentum», schreibt der grönländische Autor Jesper Kunuk Egede. Trotzdem habe das Christentum traditionelle Denkweisen und Werte der Inuit unterdrückt. Derzeit lässt sich auch dank Social Media ein Revival der Inuit-Kultur beobachten.

Ich bin dankbar, dass wir uns als Angehörige indigener Völker weltweit vernetzen und feiern können.
Kuluk Helms

«Ich bin dankbar, dass wir uns als Angehörige indigener Völker weltweit vernetzen und feiern können», sagt Kuluk Helms. Wie viele andere Inuit will sie das kulturelle Selbstbewusstsein der Grönländerinnen und Grönländer stärken.

Ohne Farbe und ohne Feier

In Nuuk ist es Abend geworden. Gesäubert steht das Egede-Denkmal in den letzten Sonnenstrahlen. In einer Abstimmung entschied die Bevölkerung, dass der in Erz gegossene Missionar bleibt, wo er ist. Auf Feierlichkeiten zum 300. Jahrestag seiner Ankunft wurde freilich verzichtet.