Recherche 03. Juni 2021, von Rita Gianelli

"Dieses Modell ist überholt"

Abstimmung

Grossrat Urs Hardegger befürwortet die Aufhebung der Mutter­schaftsbeiträge. Die Regierung habe einen gleichwertigen Vorschlag ausgearbeitet.

Herr Hardegger, Ihren politischen Vorstoss zur Förderung der familienergänzenden Kinderbetreuung letztes Jahr anerkannte die Bündner Regierung. Sie ergriff verschiedene Massnahmen, unter anderem die Aufhebung des Gesetzes über die Mutterschaftsbeiträge. War das in Ihrem Sinn?
Urs Hardegger: Nein, an diese Kombination hatte ich nicht gedacht. Aber in der Kommission Gesundheit und Soziales diskutierten wir den Vorschlag der Regierung ausführlich und befürworteten ihn einstimmig.

Was war der Grund für Ihren Vorstoss?
Die teilweise prekäre finanzielle Situation in den Kindertagesstätten in Graubünden. Die Betreuungstarife sind einkommens- und vermögensabhängig. Es gibt Kitas im Kanton, in denen Kinder von Eltern betreut werden, die in schwachen wirtschaftlichen Verhältnissen leben und deshalb einen niedrigen Tarif bezahlen müssen. Solche Kitas können ihre Kosten nicht decken. Kitas mit gut verdienenden Eltern haben keine solchen Probleme, weil dort viele Eltern höhere Tarife zahlen können. Das ist die Folge eines, wie ich finde, falschen Systems. Das «Körbli» in Igis stand vor der Schliessung. Schliesslich sprang die Bürgergemeinde ein. Meiner Meinung nach braucht es hier ­eine bessere Unterstützung durch die öffentliche Hand. Dies wäre ein aktiver Beitrag gegen die Familienarmut. Das haben die Bündner Regierung und der Grosse Rat auch erkannt.

Die entfallenen Mutterschaftsbeiträge würden durch Sozialhilfe ersetzt. Kritiker befürchten, dass Betroffene stigmatisiert werden.
Genau mit solchen Aussagen tragen die Gegner und Gegnerinnen zur Stigmatisierung der Sozialhilfe bei. Es ist sinnvoll, die Beurteilung der Gesamtsituation der Betroffenen von Anfang an bei der gleichen Stelle, dem regionalen Sozialdienst, anzusetzen. Die Sozialbehörde der Gemeinde fällt den Entscheid, aber die Ausführung, also Beratung und Auszahlung, unterliegt dem regionalen Sozialdienst, da verändert sich somit nichts.

Mutterschaftsbeiträge hätten sich bewährt, sagen der Dachverband der Sozialarbeitenden und einige andere Organisationen. Warum etwas Bewährtes abschaffen?
Dieses Modell ist überholt. Die Zahlen sind massiv rückläufig, die meisten Kantone haben die Mutterschaftsbeiträge abgeschafft. Über fünfzig Prozent der Personen, Tendenz steigend, die heute Mutterschaftsbeiträge erhalten, beziehen weiter Sozialhilfe. In Graubünden aber hat die Regierung einen gleichwertigen Vorschlag ausgearbeitet. Das heisst, wer bisher Anspruch auf Mutterschaftsbeiträge hatte, erhält weiterhin finanzielle Hilfe.

Die Mutterschaftsbeiträge seien auch ein Mittel gegen die Armutsbekämpfung, sagen Kritiker.
Das sind sie eben nicht, weil sie punktuell angesetzt werden. Armutsbekämpfung muss gesamthaft betrachtet werden. Es ist nicht so, dass Grau­bünden überdurchschnittlich von Armut betroffen ist. Dennoch haben wir viel zu tun.

Wie schätzen Sie die Armutsbekämpfung im Kanton generell ein?
Die öffentliche Hand tut zu wenig. Das heisst, das Engagement der Parlamentarier, denn von dort muss der Anstoss kommen, ist zu dürftig.

Die SP beauftragte die Regierung, diesbezüglich einen «Armutsbericht» zu erstellen, um geeignete Massnahmen treffen zu können, und wurde auf später vertröstet.
Ja, es braucht eine Grundlage, deshalb habe ich den Vorstoss unterstützt. Wenn ein Drittel der von Armut Betroffenen Jugendliche sind, stimmt etwas nicht, vielleicht auch im Elternhaus. Das muss man genauer anschauen und dem entgegenwirken. Die Mitte mit der SP wäre eine gute Seilschaft.

Was halten Sie grundsätzlich von der Familienpolitik in der Schweiz?
Die Familie ist die Zelle des Staates. Sie zu schützen, ist das Ziel. ­Eine Vision habe ich nicht. Das Leben in der Schweiz ist extrem teuer. Deshalb müssen wir Beruf und Familie besser unter einen Hut bringen. Diesbezüglich ist die nationale Politik rückständig. Aber die Kantone sind manchmal Vorreiter. Viele Gemeinden oder Institutionen orientieren sich an der kantonalen Gesetzgebung. In Graubünden wird das Personalgesetz zurzeit revidiert, da passieren einige Schritte in die richtige Richtung. Etwa, dass Berufsmodelle mit Jobsharing stärker gefördert werden sollen. Das könnte der Familienpolitik Auftrieb verschaffen.

Urs Hardegger, 63

Seit 25 Jahren wirkt Urs Hardegger als Grosser Rat in Graubünden. Er vertritt die BDP (Bürgerlich-Demokratische Partei) in der Kommission Ge­sundheit und Soziales. Der diplo­mierte Heimleiter führt die Alters- und Pflegezentren Neugut in Landquart und Senesca in Maienfeld sowie das Hospiz Graubünden in Maienfeld. Er war Kreis- und Gemeindepräsident in Seewis und präsidiert mehrere Stiftungen. Der vier­fache Vater lebt in Seewis.

Abstimmung im Juni

Am 13. Juni stimmen Bündnerinnen und Bündner über die Aufhebung des Gesetzes über Mutterschaftsbeiträge vom 8. Dezember 1991 ab. Dagegen wurde das Referendum ergriffen («reformiert.», Ausgabe 5/21). Nur Mütter oder Väter mit geringem Einkommen können Mutterschaftsbeiträge beantragen. Diese werden in der Regel für zehn Monate ausbezahlt und sind unterschiedlich hoch. Durchschnittlich betragen sie 2340 Franken im Monat. Die Regierung rechnet mit Einsparungen von rund 800 000 Franken.