«Ein Leben als Traum zwischen Maiblumen und Eisblumen»

Volksdichtung

Die Biografie des Dichters Jakob Senn ist ein Lehrstück in Sachen Bildung und Frömmigkeit der Landbevölkerung im 19. Jahrhundert. Vor 200 Jahren kam er im oberen Tösstal zur Welt.

Die Geschichte von Jakob Senn ist die der Buchstabensehnsucht eines armen Bauernsohns aus dem oberen Tösstals. Sie spielt zu einer Zeit, als es alles andere als selbstverständlich war, dass die Landjugend zur Schule gehen und das Lesen und Schreiben erlernen durfte. Und Jakob Senns Durst nach Geschichten und Textgeflechten war so stark, dass er sich eine Existenz als Schreiber ersehnte. Am Webstuhl sitzend, in einem einsamen Bauernhof unterhalb des Hörnlis. Nicht weit von der Stelle, wo die Kantone Zürich, Thurgau und St. Gallen aufeinandertreffen.

«Ich fiel von unersättlicher Leselust getrieben über alles Gedruckte her, das mir zugänglich war», schrieb er über seine Kindheit. Viel Lesbares war da aber nicht im elterlichen Flarzhaus in Fischenthal, ausser einem Wandkalender und ein paar Andachtsbüchern. «Ich hatte daher einen solchen Vorrat von geistlichen Sprüchen im Gedächtnis, dass die Mutter über meine frühe Frömmigkeit Freudentränen vergoss.» Bald fängt er selber an zu schreiben und hört trotz fehlendem Papier nimmer auf, schreibt auf den Webstuhlrahmen oder auf die Manschetten seiner Hemden.

Ein Jünglings-Dichter-Klub auf dem Sternenberg

Seine eigene frühe Wörtergier beschreibt Jakob Senn im autobiografischen Roman «Hans Grünauer». Dieses vom Limmat Verlag gerade neu herausgegebene Werk endet mit dem Entschluss zu einem Leben als freiem Schriftsteller. Er, der nicht zur Sekundarschule gehen durfte, er, der jeden gesparten Franken in Bücher investierte, die er nachts im Schein einer Öllampe lesen musste, wenn die andern schliefen, will nichts als selber Bücher schreiben. Sein alter Schulmeister gratuliert ihm in einem Brief: «Es tut mich würklich freuen, dass du vom Webstuhl weggekommen bist und vom Bauren ...» schreibt er und: «... bist der tiffigste Schüler gewesen».

Die Flucht aus der Enge des hinteren Tösstals gelingt Jakob Senn allerdings erst mit 32 Jahren. 1856 findet er eine Stelle als Gehilfe in einem Buchantiquariat in Zürich. Dort veröffentlicht er 1858 auch erste humoristische Gedichte über die Limmatstadt in Mundart («Bilder und Asichte vo Züri») und später auch die bekannten «Chelläländer Stückli», eine Art Hommage an seine Tösstaler Heimat und deren Dialekt. Seine lyrische Neigung hatte der Volksdichter Jakob Stutz (1801-1877), der auf dem Sternenberg wohnte, bereits Jahre zuvor erkannt und gefördert. Stutz führte auf dem abgelegenen Hügel im Hörnligebiet einen jugendlichen Dichterzirkel, sozusagen eine Zürcher Oberländer Version der «Dead Poets Society» für Arme. Jakob Senn sah im damals schon recht bekannten Stutz eine Art Mentor.

Ein serientaugliches Abenteurerleben

«Die Biografie des Dichters Jakob Senn ist die eines bildungshungrigen Autodidakten, der gegen alle Widerstände seinen Traum verwirklicht, Schriftsteller zu werden», sagt Matthias Peter. Der Publizist und Regisseur beschäftigt sich seit Jahren mit Jakob und seinem drei Jahre jüngeren Bruder Heinrich Senn. Letzterer schrieb während 35 Jahren Tagebuch, beobachtete seinen grossen Bruder haargenau, ja er schrieb sogar die Briefe ab, die er von ihm erhielt – aus Zürich, St. Gallen oder Montevideo in Uruguay. Denn: Ab 1864 versuchte sich Jakob Senn in St. Gallen als Wirt, ging dabei Pleite und flüchtete vor den Gläubigern nach Südamerika.

Jakob Senns abenteuerliches Leben böte Stoff für eine Netflix-Serie mit mehreren Staffeln. Mit Sieben darf er in die Schule, hatte sich das Lesen und Schreiben mit Unterstützung der Mutter jedoch schon selber beigebracht. Der Schulmeister ist ein in die Jahre gekommener Schneider, der als Lehrer nicht allzuviel taugt. Er war «ein munterer Greis, der als Jüngling das Schneiderhandwerk erlernt, sich aber in der Folge nicht als Freund von Nadel und Bügeleisen bewährt hatte, dagegen seiner netten Handschrift und guten Singstimme wegen zum Schulmeister befördert worden war.» Das Schulzimmer sei zugleich Wohn- und Arbeitszimmer für des Schneiders vielköpfige Familie gewesen und der Lehrer habe immer zugleich eine Näharbeit in den Fingern gehabt.

Der Einfluss des Pfarrers

Aufschlussreich ist Jakob Senns Schrift auch im Hinblick auf die Rolle der Dorfpfarrer auf dem Land vor 200 Jahren. Der sich aristokratisch-elitär gebende Pfarrer von Fischenthal, rät dem Vater, den Jüngling trotz Begabung nicht in die Sekundarschule zu schicken: «Lasst ihn lieber ein Handwerk lernen, etwa just die Bäckerei.»

Der Vater Hans-Jakob Senn könne natürlich selbst entscheiden, welchen Beruf der Sohn einschlagen solle, allerdings mit einer Einschränkung. «Nur versteigt euch nicht in das geschulte Wesen.» Will sagen: Weber bleib bei deinem Webstuhl, gib dich nicht der Illusion hin, dass aus deinem Sohn etwas Besseres werden könnte.

Der Rat des Pfarrers passt ganz in die Pläne des Vaters und der bösen Stiefmutter – Senn nennt sie einmal ein «schweinsdummes Weib» – aus ihm einen Heimweber zu machen, der seinen Teil zur Hauswirtschaft beiträgt. «Der Vater nickte Beifall und die Sekundarschule war überwunden.»

Für Jakob Senn hingegen wäre es «ein Trost gewesen», wenn er die Sekundarschule hätte besuchen dürfen. Er scheint dem Vater und dem Pfarrer wegen dieser verpassten Chance ein Leben lang gram zu sein. Den Konfirmandenunterricht bei besagtem Pfarrer empfindet er als Qual.

«Zu Hause bei meinen Büchern und bei unsern häuslichen Andachten war ich fromm, ohne von irgendwelchen Skrupeln des Unglaubens beunruhigt zu werden; dem Pfarrer gegenüber wandelten mich recht freigeistliche, gottlose Gedanken an; ich traute so wenig den sinnlosen Qualen seiner Hölle wie den langweiligen Seligkeiten seines Himmels; ich wünschte, dass aller Religionsunterricht von Staatswegen eingestellt werden möchte und sehnte mich ich in die vorchristliche Patriarchenzeit zurück ...».

 Und wie Jakob Senn dann den grossen Tag der Konfirmation, den «Abschied von der Kinderlehre» beschreibt, ist einfach ein grossartiges Stück Schweizer Literaturgeschichte. Auf Befehl des Vaters eingekleidet in einen viel zu grossen Anzug, in den er noch hineinwachsen können sollte; ein Aufzug «wirklich zum Ertrinken weit». «Es winterte stark, auch in meiner Seele. Die Feier hatte nichts Erhebendes für mich.»

Zwei Bücher fressende Brüder

Als Jakob in der fünften Klasse ist, wird für ihn zuhause ein Webstuhl aufgestellt, damit er mit seiner Webarbeit einen Teil des Familienunterhalts bestreitet: «So war ich denn traurig genug eingeschifft auf der Woge des Lebens, da es wirklich des Vaters ausgesprochener Wunsch war, mich berufsmässig an den Webstuhl zu binden.» Nachdem die Mutter verstorben ist, zieht eine böse Stiefmutter ein, die zusammen mit dem Vater die Söhne fortan vor allem als billige Arbeitskräfte betrachtet; in der Landwirtschaft und der Heimweberei. «Sie meinte, ich sei zur Arbeit geboren, und nicht, um den Herrn zu spielen, und es würde sie jeder Rappen reuen, den sie an mich wenden müsste, damit ich später mit aufrechtem Rücken umhergehen könnte. Wir seien Diebe, Vergebenfresser, nichtsnützige Schelme.»

Ihren Bücherhunger müssen die beiden Brüder auf die Zeiten verlegen, wenn andere Arbeitstätige Pause machen. Als Jakob Senn 20 ist, zieht die Familie in ein Gehöft unterhalb des Hörnlis, und das Leben wird für die Senn-Buben noch knochenhärter. «Allein so müde war ich doch nie, dass ich nicht noch ein Verlangen gefühlt hätte, einige Augenblicke über einem meiner Bücher zu verweilen, was jedoch aus dem Gesichtspunkte der Ölersparnis von den Eltern hart gerügt zu werden pflegte», schreibt Senn über diese bittere Zeit der Entbehrungen, wo er nicht nur Weber sondern auch noch Bauernknecht war.

Ein Zeitzeugnis von unschätzbarem literarischem Wert

Unter der Woche lesen die Brüder oft nachts bis Mitternacht. Den Stoff dafür besorgen sie sich beim Apotheker vor Ort, einem Antiquar in Zürich oder später in der evangelischen Leihbibliothek. Lateinische Bibeln, uralte Kräuterbücher von Bock und Brunschwig, Jakob Gessners Tier-, Vogel- und Fischbuch, die Lebensgeschichte des Sebastian Münster – die beiden fressen die Buchstaben wild durcheinander. Und sie setzen sich oft zwischen ein und fünf Uhr morgens wieder an den Tisch, um zu schreiben; immer dann «wenn die Leute gewöhnlich noch schlafen oder auch an Sonntagen, den die grösste Menge mit dumpfem Müssiggang oder mit Kartenspiel und noch Ärgerm zubringen.»

Die hinterlassenen Schriftstücke der beiden sind ein Glücksfall für die Forschung über die Zustände vor 200 Jahren. Was Matthias Peter am Leben der beiden so fasziniert: «Die Geschichte der Gebrüder Senn gibt uns heute einzigartige Einblicke in die Anfänge der Alphabetisierung und Literarisierung der Landbevölkerung im 19. Jahrhundert.» Als er Jakob Senns autobiografischen Roman «Hans Grünauer» zum ersten Mal las, war sein Interesse für diese Figur und seine Lebensumstände geweckt. In der Folge beschäftigte sich der Publizist jahrelang mit den Tagebuchaufzeichnungen seines Bruders Heinrich, 2004 veröffentlichte er im NZZ-Verlag ein Buch über die Gebrüder Senn.

Der Lebenstraum endet in der Limmat

Im 200. Geburtsjahr tritt Peter, der seit 2004 künstlerischer Leiter der Kellerbühne St. Gallen ist, nun gleich mehrfach in Erscheinung: Als Kurator der Wanderausstellung zum 200. Geburtstag des Dichters und Herausgeber der Neuauflage seines Lebensromans «Hans Grünauer» im Limmat Verlag. Auch hat der Schauspieler und Regisseur ein Einmann-Theaterstück über Jakob Senn geschrieben, das er gleich selber aufführt: «Der Grüne Heinrich von Fischenthal».

Der Titel ist ein Verweis auf Gottfried Kellers wohl berühmtestes Buch. Jakob Senn hat Gottfried Keller 1863 geschrieben mit der Bitte, seinen Roman einem Verlag zu empfehlen. In dem Brief an den bekannten Schriftsteller heisst es: «Ich bin Autodidakt im strengsten Dinge des Wortes, und ich ward es natürlich nicht etwa aus Originalitätssucht, sondern aus Mittellosigkeit; dass daher meine Bildungswege jedenfalls keine Blumenpfade waren, lässt sich denken.» Eine Antwort hat Senn wohl nie erhalten.

Seine Lebensgeschichte nennt Jakob Senn einen Traum, den er «zwischen Maiblumen und Eisblumen geträumt» und aufgeschrieben hat. Der Roman erscheint erst 1888 unter dem Titel «Ein Kind des Volkes», neun Jahre nach seinem Tod mit 54. Seine Leiche war 1879 aus der Limmat gezogen worden. Nur ein Jahr nach seiner Rückkehr aus Südamerika nach Zürich starb er verwirrt und verarmt. In einem seiner letzten Gedichte in Uruguay hatte er geschrieben: «Aus dem Strome ward gezogen / Gestern eines Mannes Leiche. Sagt der Polizeibericht.»

Ausstellungen und Veranstaltungen rund um den 200. Geburtstag von Jakob Senn

Ausstellungen und Veranstaltungen rund um den 200. Geburtstag von Jakob Senn

- Die Wanderausstellung zu Jakob Senns 200. Geburtstag nimmt das heutige Publikum mit auf eine Reise zurück in eine Zeit, in der eine allgemeine Lese- und Schreibbefähigung in der Schweiz erst im Entstehen begriffen war. 

- Das Erzähltheaterstück «Der Grüne Heinrich von Fischenthal» vermittelt einen Eindruck des Lebens von Jakob und Heinrich Senn und vom Landleben im 19. Jahrhundert generell.

- Im neu aufgelegten Roman Hans Grünauer erzählt er seine Lebensgeschichte. Sie wurde allerdings erst nach seinem Tod erstmals gedruckt. Jakob Senn: Hans Grünauer. Mit einem Nachwort von Matthias Peter. Limmat Verlag 2024.

Weitere Informationen und Videos: jakob-senn-200.ch