Aus dem Domleschg, der Herrschaft oder dem Safiental, sogar aus dem Baselbiet sind die Menschen nach St. Moritz gereist. Mit dabei: Werner Tiepner, pensionierter Kirchenorganist. «Das Bergell kenne ich kaum. Eine gute Gelegenheit, auf einer Kulturreise mehr darüber zu erfahren», haben er und seine Frau sich gesagt. Die Organisatorin Cornelia Mainetti von der Fachstelle Kirche und Tourismus freut sich: «Es ist die erste von insgesamt drei Bergellreisen. Wir sind ausgebucht.» 25 Personen besteigen das Postauto in Richtung Maloja. Hier beginnt das Bergell, das einzig italienischsprachige Tal Graubündens, das reformiert ist.
Hier, wo auch das Licht am besten ist, wie der Kunstmaler Giovanni Segantini Ende des 19. Jahrhunderts schwärmte, verbrachte dieser seine Sommermonate. Auf dem kleinen Dorffriedhof liegt der Künstler und seine Familie begraben; unweit der Grabstätte von Fadri Rattis Urgrossmutter. Im Windschatten der Friedhofsmauern erinnert sich Ratti an eine der Anekdoten, überliefert von seiner Grossmutter: «Um das elektrische Licht des «Maloja Palace» zu sehen, lief sie von ihrem Haus in Sils bis zum Ufer des Silsersees.» Das war 1884. Das Hotel war damals eines der grössten und modernsten der Welt. Fadri Ratti, der als Pfarrer in Felsberg amtet, verbrachte einen Grossteil seiner Schulferien bei den Grosseltern im Bergell.
Spontaner Chor. Weiter gehts im Postauto knapp zwanzig Kehren tiefer ins Sopraporta, den oberen Teil des Bergells. Neben der vielbefahrenen Passstrasse, oberhalb des Dorfes Casaccia, stehen die Ruinen der Kirche San Gaudenzio. Diese Stelle war seit dem 9. Jahrhundert ein vielbesuchter Wallfahrtsort. Eine zauberhafte Ruhe umfasst einen innerhalb der Ruinenmauern. «Lasst uns gemeinsam ein Lied anstimmen», schlägt Fadri Ratti vor. Als Kirchenmusiker übernimmt Werner Tiepner spontan die Chorleitung. Die Kirche ist nach dem Märtyrer Gaudenzio benannt, der der Legende nach die heidnischen Talbewohner zum Glauben bekehren wollte, weshalb man ihm den Kopf abschlug. Im 16. Jahrhundert, so die Legende, sollen Reformierte auf Anordnung des italienischen Bischofs Pietro Paolo Vergerio die Kirche entweiht haben. Vergerio setzte sich intensiv mit den reformatorischen Schriften auseinander und kannte auch Martin Luther. Von derkatholischen Kirche exkommuniziert, flüchtete er ins Bergell und wurde Pfarrer in Vicosoprano. Als Förderer der Reformation im italienischsprachigen Raum ging er in die Geschichte ein.
Fehler eingestehen. Wenig zimperlich gingen die Reformierten in Vicosoprano mit Andersdenkenden um, wie Renata Giovanoli-Semadeni während derDorfführung durch den Hauptort des Taleserklärt. Fast vierzig Frauen und wenige Männer wurden im Zuge der Hexenverfolgungen hingerichtet. Bewusst habe man nichts zerstört, was an das dunkle Kapitel erinnert – «als Mahnmal». So sind im heutigen Gemeindehaus noch immer die Folterkammer und eine Gefängniszelle zu besichtigen.
