Herr Aerni, was hat Sie dazu bewogen, sich dermassen intensiv mit Entwicklungszusammenarbeit (EZA) zu beschäftigen?
Philipp Aerni: Schon als Kantischüler interessierte mich der Weltsüden. Auch mein anschliessendes Studium spielt biografisch hinein, zudem ist meine Frau Äthiopierin. In diesem Land passiert in Sachen Entwicklung momentan sehr viel, und der Staat fördert den privaten Sektor sehr stark.
Und Sie, Herr Herkenrath – aus welcher Motivation heraus haben Sie Entwicklungssoziologie studiert?
Mark Herkenrath: Ich hatte das Glück, dass ich als Jugendlicher für ein Jahr in Lateinamerika leben konnte. Ich kehrte mit ganz vielen Fragen zur Armut in der Welt zurück. Das war danach auch mein Thema als Student sowie als Professor für Entwicklungssoziologie.
Sie sind beide entwicklungspolitische Experten. Wie benoten Sie die EZA der Schweiz?
Aerni: Das Schweizer Modell nimmt eine künstliche Trennung vor. Die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit kümmert sich mehr um soziale Entwicklung und das Seco um wirtschaftliche. Hinter dieser Trennung verbirgt sich unausgesprochen der Gedanke, dass wirtschaftliche Entwicklung auf Kosten der sozialen gehe. Doch wenn wir die UNO-Nachhaltigkeitsziele erreichen wollen, müssen Zivilgesellschaft und Privatsektor verstärkt zusammenarbeiten.
Herkenrath: Sicher sollte die Stärkung der Zivilgesellschaft in den Partnerländern Hand in Hand gehen mit der Förderung der lokalen Wirtschaft. Grundsätzlich beurteile ich aber die Schweizer Entwicklungszusammenarbeit positiv. Insbesondere, dass die Projekte stark partizipativ ausgestaltet sind und die Stärkung der Zivilgesellschaft ein Schwerpunkt ist.
Wie bewerten Sie die von Bundesrat Ignazio Cassis postulierte Förderung des Privatsektors?
Aerni: Ich glaube, Cassis will vor allem mehr nachhaltige Wirkung in der Entwicklungszusammenarbeit. Denn bisher bleiben die Projekte stark von externer Finanzierung abhängig und wirken oft strukturerhaltend. Die Erhaltung des Status quo ist aber in Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum und grosser Verstädterung kontraproduktiv. Wir sollten uns keine Illusionen machen: Der Privatsektor und nicht der öffentliche Sektor schafft Prosperität und ist bei der Armutsbekämpfung entscheidend.
Herkenrath: Im Botschaftsentwurf von Herrn Cassis geht es um Partnerschaften mit Schweizer Konzernen. Leider kein Wort darüber, nach welchen Kriterien diese Partnerschaften funktionieren sollen. Diese Frage muss geklärt werden. Wir sind offen für die Zusammenarbeit mit dem Privatsektor, wenn strikte soziale und ökologische Standards eingehalten werden.
Und damit stossen Sie bei der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit auf taube Ohren?
Herkenrath: Der Privatsektor ist für uns von Alliance Sud kein Schreckgespenst. Aber die bis anhin so wichtige Leitlinie, auch die Zivilgesellschaft zu stützen, fehlt in der Botschaft des Bundesrates zur Neuausrichtung der Entwicklungspolitik. Wie wichtig das ist, habe ich jüngst bei einer Reise nach Burkina Faso erlebt. Die neue Mine eines australischen Rohstoffkonzerns löste Zwangsvertreibungen aus. Die umgesiedelten Frauen müssen nun kilometerweit zur nächsten Trinkwasserquelle laufen, die Schulen sind für manche Kinder nicht mehr erreichbar. Eine von Schweizer Hilfswerken unterstützte Organisation hat aus diesem Grund ein neues Minengesetz eingefordert, das solche Praktiken nun verhindern soll. Zudem müssen Minengesellschaften vom Gewinn Geld abgeben, mit dem sich dörfliche Infrastrukturen aufbauen lassen.
Aerni: Bisher habe ich eher die Erfahrung gemacht, dass die Deza und die Hilfswerke dem Privatsektor misstrauen, da er profitorientiert ist. Profite machen hat jedoch viel mit finanzieller Nachhaltigkeit zu tun, denn nur wer über seine Gestehungskosten hinaus produziert, kann auch in die Zukunft investieren und Innovationen generieren. Wer seinen Fokus auf den Aufbau der Zivilgesellschaft legt, kann dabei leicht übersehen, dass wirtschaftliche Ermächtigung dem Aufbau der Zivilgesellschaft vorausgeht. Erst mit wirtschaftlicher Entwicklung entsteht eine unternehmerisch denkende Mittelklasse, die politische Interessen einbringen und auch durchsetzen kann.
Zuerst das Essen, dann die gesellschaftliche Mitwirkung?
Aerni: Das war schon in der Schweiz des 19. Jahrhunderts so. Das geht leider oft vergessen: Erst mit einem gewissen Wohlstand ist bei uns ein Engagement für politische Rechte entstanden. Nun übertragen wir unsere sozialen und politischen Vorstellungen einfach auf Afrika. Dann wird eine Näherin in einem Textilbetrieb in Äthiopien zum Inbegriff der Ausbeutung, knapp 35 Franken Monatslohn scheinen ein Hohn. Aber schauen wir genau hin: Für viele dieser Näherinnen bedeutet dies eine Emanzipation vom Clan, von der Zwangsheirat und schliesslich auch die Aneignung von Qualifikationen, die sie später zum Beispiel befähigen, ein eigenes Nähatelier aufzubauen.
Herkenrath: Wenn Bäuerinnen wegen einer neuen Fabrik vertrieben werden und dann in dieser Fabrik arbeiten müssen, hat das nichts mit Entwicklung zu tun. Zudem müssen wir uns bewusst sein, dass die Schweiz für die Entwicklungszusammenarbeit nicht mal 0,5 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens ausgibt. Leider jedoch sieht der Bundesrat hier auch keine Erhöhung vor. Da geht jeder Franken, der für den Privatsektor eingesetzt wird, auf Kosten des ebenso nötigen Engagements zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Schon jetzt werden in der Schweiz die Kosten für das Asylwesen eingerechnet.
Aber durch die Schaffung von Arbeitsplätzen in den Herkunftsländern könnte doch Migration verhindert werden?
Herkenrath: Das funktioniert eben erwiesenermassen nicht. Die neuste Forschung zeigt eindeutig, dass der Migrationsdruck vor allem dann abnimmt, wenn die Bereiche ländliche Entwicklung, Bildung, Gesundheit und Rechtsstaatlichkeit gefördert werden.
Aerni: Migration ist keine Einbahnstrasse, viele gut Ausgebildete kehren auch wieder zurück, wenn sich die institutionellen Rahmenbedingungen ändern. Ich bleibe dabei: Die Nachhaltigkeitsziele der UNO für 2030 lassen sich nur mit einem starken Einbezug des Privatsektors und besserer Kooperation aller Akteure erreichen.
