Im Leben von Vreni Agostini war schon immer viel los – seit letzten Sommer nun noch ein bisschen mehr. Denn die pensionierte Lehrerin geht zwei Mal die Woche ins Altersheim, ist Museumspräsidentin des Heimatvereins, engagiert sich im Trachtenclub – und ist nun auch Ansprechs- und Vertrauensperson der zwei syrischen Flüchtlingsfamilien, die seit letzten Juni im Pfarrhaus in Kandersteg leben.
Das örtliche Pfarrhaus hat zehn bis elf Zimmer. Zu gross für den Pfarrer. Deshalb versuchte die Kirchgemeinde, das Haus zu vermieten. Erfolglos – Grossfamilien gibt es im Dorf keine mehr. Acht Monate stand das Pfarrhaus leer. Dann meldete sich Hanna Ogi, die damalige Kirchgemeinderatspräsidentin von Kandergrund-Kandersteg, im Mai 2015 in Absprache mit dem Rat bei der Kirchlichen Kontaktstelle für Flüchtlingsfragen. «In einem Schreiben der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn wurde ich darauf aufmerksam, dass Kirchen Liegenschaften und Wohnungen für Flüchtlinge suchten», sagt sie.
Da das Pfarrhaus dem Kirchgemeinderat und der Gemeinde gehört, berief Hanna Ogi eine ausserordentliche Orientierungsversammlung ein. Alle mussten einverstanden sein, sollten Flüchtlinge ins Pfarrhaus ziehen. «Ich hatte Bammel. Schliesslich wusste ich nicht, welche Reaktionen das Vorhaben hervorrufen würde», sagt sie. «Aber ich war überwältigt von den Reaktionen.» Es wurde viel diskutiert an diesem Abend – ob denn die Haustür nun stets abgeschlossen sein müsse, alles eingeschlossen zu sein habe. Ängste oder Zweifel über die Nutzung wurden offen angesprochen. Bei der Abstimmung enthielt sich nur eine Person. Die restlichen rund vierzig Anwesenden stimmten dem Projekt zu. «Viele gute Ideen sind an diesem Abend entstanden. Damit hatte ich nicht gerechnet», sagt Hanna Ogi. An diesem Abend war auch Vreni Agostini mit von der Partie und meldete sich als freiwillige Helferin für die Neuzuzüger.
Überrascht. Nach der Versammlung ging alles ziemlich schnell. Der Kontakt zur Asylkoordination Thun wurde hergestellt. Diese inspizierte die Liegenschaft. Ein Haus in solch gutem Zustand bekämen sie selten angeboten, erinnert sich Hanna Ogi an die Reaktion. Zudem seien Schulen, Spital und Einkaufsmöglichkeiten gut erreichbar. Innerhalb von vierzehn Tagen zogen die beiden syrischen Familien im Pfarrhaus ein – das war im Juni letzten Jahres. «Wir rechneten mit zwei Familien mit kleinen Kindern», sagt Vreni Agostini. Als dann zwei Schwägerinnen mit vier schulpflichtigen Kindern und sechs Jugendlichen über sechzehn Jahren einzogen, seien sie schon ein wenig überrascht gewesen.
Seither klingelt das Handy von Vreni Agostini öfter. Geht die Waschmaschine im Pfarrhaus kaputt, organisiert sie die Reparatur. Bei Hausaufgaben unterstützt sie die Kinder. Sie vermittelt bei Anliegen zwischen dem Sozialamt und der Familie. Sie organisiert ein Auto, wenn ein Familienmitglied zum Arzt muss. «Sie ist die gute Fee», fasst Hanna Ogi zusammen. Auch andere Einheimische bieten ihre Hilfe an und unterstützen die beiden Familien. Aber Vreni Agostini ist die ehrenamtliche Vertrauensperson der dreizehn Bewohner des Pfarrhauses. Bei ihr können sich die syrischen Flüchtlinge immer melden. «Es gibt Momente, da bin ich schon müde», sagt die 73-Jährige. «Etwa, wenn zwei Schulkinder um 19 Uhr noch mit Hausaufgaben kamen, die hü hott noch rasch zu erledigen waren, obwohl sie das längst hätten tun sollen.» Auch prallen manchmal unterschiedliche Tagesrhythmen aufeinander. Aber da seien auch viele besondere Momente. Zudem würden die Familienangehörigen immer selbstständiger. «Wenn mir die Mutter versucht zu sagen, wie glücklich sie ist, dass ihr Sohn so gut Deutsch könne und dass er fröhlich aus der Schule nach Hause gekommen sei, dann berührt mich das.»
Ehrgeizig. Eine der Bewohnerinnen des Pfarrhauses ist Fatima. Die 23-Jährige kam vor zwei Jahren zusammen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in die Schweiz. Vor dem Umzug nach Kandersteg lebte sie im Durchgangszentrum für Asylsuchende in Enggistein bei Worb. Heute besucht Fatima drei Mal die Woche einen Deutschkurs. Wenn es nach ihr ginge, würde sie dies täglich tun. «Ich will mein Deutsch verbessern», sagt sie und kämpft mit den Tränen. Sie will lernen, arbeiten, Struktur in ihren Alltag bringen. Fatima studierte in der nordsyrischen Stadt Aleppo und träumt davon, als Innendekorateurin zu arbeiten. Jetzt will sie aber erst einmal eine Beschäftigung finden, egal was.