Für manche Ohren ritzt es die Grenze zum Kitsch: Das Lied vom «holden Knaben im lockigen Haar», der in der Krippe schlummert. Und doch kann sich kaum jemand dem Bann von «Stille Nacht» entziehen.
Vielleicht gründet das Geheimnis seines Erfolgs bereits in der Entstehungsgeschichte des berühmten Weihnachtslieds. 1818 leidet Europa unter den Folgen der Napoleonischen Kriege, es herrscht Mangel und Not. In Oberndorf bei Salzburg ist die Orgel kaputt, an eine festliche Umrahmung der Christmesse ist daher kaum zu denken. Da treten ein Hilfspriester und ein Dorfschullehrer auf den Plan. Den Quereinsteigern gelingt etwas ganz Grosses: Am Nachmittag des 24. Dezember 1818 komponiert Franz Xaver Gruber die Melodie zum Gedicht seines Freundes Joseph Mohr.
Am Abend dann trägt das Duo sein Lied nur Gitarrenbegleitung in der St.-Nikola-Kirche in Oberndorf vor. Man könnte vom Triumph der Einfachheit sprechen. Sicher ist es die Geburtsstunde eines «stellvertretenden Symbols für Weihnachten», wie es die Berner Musikprofessorin Britta Sweers sagt.
Houseversion und Streiklied
Schon 1822 zogen die ersten Zillertaler Sängerfamilien aus, um Kaiser Franz und den Zaren von Russland mit Volksliedern zu unterhalten. Darunter der neue Hit. Die hohen Herren waren begeistert. Es folgten Konzerttourneen nach Deutschland, Schweden und England, 1839 die erste Reise nach New York, zwei Jahrzehnte später kamen die Rainer-Sänger nach St. Petersburg und blieben dort zehn Jahre.
Einst in Kriegszeiten entstanden, machte das legendäre Weihnachtslied auch vor den Schützengräben nicht halt. An der Westfront sollen sich am Weihnachtsabend 1914 feindliche Soldaten verbrüdert und gemeinsam «Stille Nacht» gesungen haben. Das Ereignis ging als «Weihnachtsfriede» in die Geschichte ein, blieb aber lediglich eine Fussnote in den Schrecken des Ersten Weltkriegs, der vor 100 Jahren endete.
In rund 300 Sprachen wird «Stille Nacht» gesungen, ist Teil des immateriellen Kulturerbes der Unesco und wird regelmässig neu interpretiert. Ob Jazz, Rock, Pop oder House: Das Lied hält jeden Musikstil aus. Unverwüstlich bleiben die Evergreens: «Aufnahmen mit Elvis Presley, Frank Sinatra, dem Golden Gate Quartet und Mahalia Jackson werden immer wieder aufgelegt», sagt Martin Korn, Label-Manager von Sony Classical Music Schweiz. Das Lied dürfe auf keiner Weihnachts-CD fehlen. Allerdings hat es sich zusehends vom religiösen Kontext gelöst. «Schon um 1900 dienten Text und Melodie als Basis für zahlreiche Parodien, etwa für Streiklieder der Arbeiter», sagt Sweers.
Sehnsucht nach der Naivität
Ginge es nach den Spezialisten, wäre «Stille Nacht» kaum zum Klassiker geworden. «Hymnologinnen und Hymnologen betrachteten es als minderwertig», sagt Kirchenmusikexperte Jochen Kaiser von der Zürcher Landeskirche. Das Urteil von Musikprofessorin Sweers ist weniger hart: «Es ist eine sehr eingängige Melodie, die trotz des grösseren Tonumfangs noch im sanglichen Bereich liegt.»
Zudem habe es Wiegenlied-Charakter. Das betont auch Claus J. Frankl: «Wir alle waren Kinder und können uns mit dem Jesus-Kind identifizieren.» Frankl schrieb das Libretto des Musicals, das zum 200. Geburtstag von «Stille Nacht» zurzeit im Tirol aufgeführt wird. Für ihn steht das Lied «für unsere Sehnsucht nach einem kindlich naiven Glauben».
Und so werden auch in dieser Adventszeit und spätestens an Weihnachten unzählige Menschen in die vertraute Melodie einstimmen. An Heiligabend, wenn die Dunkelheit über die Landschaft fällt und nur noch Kerzen die Kirche erhellen, treffe «Stille Nacht» diese Stimmung ideal, sagt auch der reformierte Kirchenmusikexperte Kaiser. «Wäre es draussen noch hell und wir noch immer von unserer Geschäftigkeit getrieben, dann würde das Lied fade schmecken.» So aber bleibe es unverzichtbar.
Die schönsten und schrägsten Versionen des Klassikers als Videos finden Sie unten.
