Recherche 29. Mai 2021, von Christian Kaiser

«Eine Kirche, die auf die Strasse geht.»

Ökumene

Erstmals fand die Lange Nacht der Kirchen im Kanton Zürich statt, 140 Kirchen machten mit. Zum
Start spazierten Bischof und Kirchenratspräsident in trauter Zweisamkeit.

Rassig fährt er pünktlich zum Glockenschlag vor und entsteigt einem schwarzen Golf GTI, älteres Modell. Noch trägt sein Auto ­eine Zürcher Nummer, der Umzug nach Chur steht noch an. Der neue Bischof Joseph Bonnemain trägt einen schwarzen Anzug über dem weissen Stehkragenhemd, vorn auf der Brust ein schweres Kreuz in Silber. Am Ringfinger den goldenen Ring als Zeichen, dass er «mit dem Bischofsamt verheiratet» ist.

Hören, riechen und sehen

Der reformierte Kirchenratspräsident Michel Müller begrüsst ihn strahlend, und gemeinsam posieren sie für die Fotografen vor dem Plakat mit dem Schriftzug «Der Ausgehtipp. Seit 2021 Jahren. Lange Nacht der Kirchen.»
Diese Kirche hier, es ist die reformierte von Zürich Höngg, macht gerade einen Heidenlärm. Zum Start der ersten Zürcher Kirchennacht am 28. Mai um 18 Uhr läuten an allen über 60 teilnehmenden Kirchen im Kanton eine Viertelstunde lang kräftig die Glocken. Damit auch ja niemandem entgeht, dass hier etwas los ist: Heute erwarten einen Lichtprojektionen, Raumbeduftung mit ätherischen Ölen und ein eigens zusammengestelltes DJ-Set.

Verbindung finden

Der Künstler Bernard Günther alias Charles Meyer verlieh seinem Projekt den Titel «Die Wahrnehmung des Andersseins und die Suche nach Verbindung». Dafür hat er die beiden Höngger Kirchen bespielen dürfen, die reformierte und die katholische. Und zum Auftakt der Kirchennacht demonstrieren die beiden Kirchenoberen Einigkeit. Sie luden zum gemeinsamen Spaziergang von der reformierten zur katholischen Kirche ein. 

Beim Portal der reformierten Höngger Kirche weitet sich der Blick über die Stadt und den See bis hin zum Panorama der weissen Berggipfel. Drinnen wandern kristalline Formen durch den Raum, es riecht nach Duftölen, die orientalischen Sphärenklänge mischen sich mit dem Klang der Glocken. Die Lichtbildcollagen an den Mauern zeigen Makro­aufnahmen von Mikrokristallen, etwa von Weinsäure.

Im Weinberg des Herrn

Unweit des alten Höngger Rebbergs scheint das gut zu passen, biblische Gleichnisse klingen an. Und der Bischof erinnert sich gern an den Anblick der goldgelben Weinstöcke hier im Herbst auf seinem Arbeitsweg als Spitalseelsorger im Spital Limmattal. Der Künstler sagt, er habe Dinge zeigen wollen, die wir normalerweise nicht wahrnähmen. Die Natur in die Kirche hineinzu­holen und so neue Sichtweisen zu eröffnen, sei sein Ziel: «Wie wunderschön doch ist, was in der Natur vorkommt.» Duft und Sound sollen die Wahrnehmung unterstützen. Das scheint alles ganz im Sinne des Kirchenratspräsidenten: Die alten Kirchen müssten mit Leben gefüllt werden, Räume für Neues werden. «Wir müssen die Türen so offen halten, dass die Menschen über die Schwelle treten, in die Kirche.» Aber nicht nur: Die Kirche müsse auch hinausgehen zu den Menschen. «Was uns verbindet, ist der Auftrag, für die Menschen in dieser Stadt da zu sein», sagt der Bischof.

Es ist wichtig, dass wir uns immer wieder gegenseitig in unseren Kirchen, sozusagen zu Hause, besuchen.
Michel Müller, Zürcher Kirchenratspräsident

Für Müller ist es auch wichtig, «dass man sich gegenseitig besucht», jeweils in der Kirche des anderen, quasi zu Hause. Vor der katholischen Heiliggeist-Kirche, einem modernen Bau aus den 70ern, bitten die Fotografen erneut zum Shooting. Die Kirche ist soeben renoviert worden, noch liegt Baumaterial herum. Kirche sei eben immer eine Baustelle, sagt der Bischof. «Semper renovandum», immer in Renovation, ergänzt der Kirchenratspräsident. Auch mit Blick auf den Bauplan scheinen sie sich einig: Eine Kirche mit viel Dynamik (Bonnemain) und eine, die sich öffnet (Müller), soll es sein. Eine Kirche, die auf die Strasse geht.

140 Kirchen machten mit

In einigen Kantonen gab es sie schon früher, 2021 führten auch die beiden Zürcher Landeskirchen zusammen mit den Christkatholiken zum ersten Mal eine Lange Nacht der Kirchen durch. Auf dem Land und in der Stadt öffneten am 28. Mai rund 140 Kirchen ihre Portale für ein besonderes Programm: Theater, Konzerte, Kunstinstallationen, Kirchturmbesteigungen, Beleuchtungen, Beschallungen. «Wir wollten eine Nacht der offenen Türen, Möglichkeiten zur Begegnung schaffen», sagt Simon Brechbühler vom Organisa­tionskomitee. Die Rückmeldungen auf die erste Austragung seien hervor­ragend gewesen. Die Lange Nacht war auch als Signal zum Aufbruch und zur Überwindung der Isolation im Corona-Jahr gedacht. Der Anlass fand in neun Kantonen statt und zeitgleich in anderen europäischen Staaten.