Schwerpunkt 28. Dezember 2022, von Marius Schären

Bis Hände «sehen» können, heisst es üben, üben, üben

Hände

Wer nichts sieht, hat einen Sinn weniger. Dann übernehmen die Hände zu einem grossen Teil die Aufgaben der Augen, ganz auto­matisch. Und doch will es intensiv gelernt sein.

Hanna Wüthrich wird als Braille-Lehrerin an der Blindenschule im bernischen Zollikofen bald pensioniert. Seit ihrer Geburt ist sie vollständig blind. So bedeutet denn das Wahrnehmen mit den Händen, den Fingern und vor allem den Fingerbeeren für die Schaffhauserin quasi das Leben.

Sie macht es nicht nur selbst, sondern hat während Jahrzehnten ungezählte Menschen vom Kleinkind- bis ins Erwachsenenalter dabei unterstützt, es zu lernen. Sie sagt: «Den Tastsinn zu schulen, ist enorm wichtig. Und es ist auch die grösste Knochenarbeit. Dafür muss man üben, üben, üben.»

Der Mann, in dessen Händen Tiere leben

Drew Colby (48) spielt und arbeitet seit seinem fünften Lebensjahr mit Puppen. Vor zwölf Jahren spezialisierte er sich auf die alte Kunst, mit den Händen Schattenfiguren zu erzeugen. Mit seinen selbst entwickelten Performances ist der Autodidakt bereits auf fünf Kontinenten aufgetreten. Seine Shows haben ihm diverse Preise eingebracht, so den Phoenix Arts Club Cabaret Award 2018 in London und den Publikumspreis für das beste Stück am Newcastle Puppetry Festival 2019. Colby belegte auch den dritten Platz bei der deutschen Talentshow «Das Supertalent» 2021.

Neben Hanna Wüthrich sitzt Alexander Wyssmann im Schulzimmer. Der 53-Jährige unterrichtet ebenfalls hier: Informations- und Kommunikationstechnologie, zudem die Blindenschrift Braille und Musik. Auch ist er Teamleiter «Sehen». Seine Vorgeschichte ist anders als die von Hanna Wüthrich: Er hat seinen Sehsinn mit 20 verloren, bei einem Unfall. «Im ersten Moment war das schlimm», erzählt er. Die Wahrnehmung habe sich danach aber sehr rasch verschoben.

Die anderen Sinne aktiviert

Er begann, mehr zu tasten, zu spüren, zu riechen und zu hören. Nach dem Unfall sah er zuerst noch gegen zehn Prozent. «Das half mir aber nicht. Dieser Rest lenkte mich vor allem ab», sagt der Heilpädagoge und Musiker. Von Grund auf gelernt, mit dem Tastsinn zu «sehen», habe er nicht. «Ich habe es einfach gemacht, ich konnte ja nicht anders. Dabei passiert sehr viel von allein.» Zwar habe er gedacht, er würde die Braille-Schrift nie lernen, als er drei Tage nach dem Unfall erstmals mit ihr in Kontakt kam. «Doch schon nach einem Jahr ging es ganz gut.»

Ein Zeichen muss vollständig mit einer einzigen Fingerbeere ertastet werden können.
Hanna Wüthrich, Braille-Lehrerin an der Blindenschule Zollikofen

Die Blindenschrift ist für Menschen mit Sehbehinderung zentral. Ihr Erfinder, der französische Mathematiker Louis Braille (1809–1852), hat sie nach einem streng logischen System aufgebaut. Die Schrift operiert mit nur sechs Punkten pro Zeichen, das ergibt 64 Möglichkeiten. Zu Beginn übt man mit doppelten Abständen zwischen den Buchstaben und den Zeilen. Die ganze Schrift einfach zu vergrössern, würde laut Hanna Wüthrich jedoch nichts bringen: «Ein Zeichen muss vollständig mit einer einzigen Fingerbeere ertastet werden können.»

Bitte berühren!

Anfängliche Bedenken und Ängste, den Tastsinn einzusetzen, bezeichnen Hanna Wüthrich und Alexander Wyssmann als eine der grösseren Herausforderungen. «Eigentlich lernen wir sonst ja ein Leben lang: Berühre das nicht, dieses nicht, jenes nicht», sagt Wüthrich. Es sei daher enorm wichtig, dass die Lust am Tas­ten geweckt werde.

Eine der grössten Ängste ist es, die Finger einzuklemmen, bei Autotüren beispielsweise. Gerade Kinder machen dauernd solche Erfahrungen.
Alexander Wyssmann, ICT- und Musiklehrer an der Blindenschule Zollikofen

Alexander Wyssmann, der auch Jazzpianist ist, ergänzt dies mit einer persönlichen Horrorvorstellung: «Eine der grössten Ängste ist es, die Finger einzuklemmen, bei Autotüren beispielsweise. Gerade Kinder machen dauernd solche Erfahrungen.» Die Früherziehung in der Blindenschule sieht er daher als sehr wertvoll: «Die Kinder lernen dabei, wie sie trotz möglicher Gefahren ihre Neugier wecken und ihren Tastsinn ausloten können.»

An der Blindenschule in Zollikofen gibt es auch eine spezialisierte Abteilung, die Lehrmittel herstellt. So gestaltet das Team zum Beispiel auch dreidimensionale Klee-Bilder aus Holz. Und gleich beim Haupteingang der Blindenschule ist ein Reliefmodell der Schulanlage aufgestellt. So lässt sich die Anordnung der Gebäude mit den Händen und Fingern erfassen. Beim Trainieren des Tastsinns seien dreidimensionale Labyrinthe sehr nützlich, erklärt Hanna Wüthrich, die selber während Jahren in der Lehrmittelabteilung gearbeitet hat.

Es ist auch schön

«Wenn man die Nähe nicht mehr scheut, kann das Tasten sogar schön sein», sagt die Braille-Lehrerin. Und weiter: Beim Tasten sei man mit
weniger Auswahl konfrontiert, es gebe weniger zu entscheiden. Allerdings, schränkt er ein, sei der Tastsinn der langsamste Sinn.
Alexander Wyssmann bestätigt: Als blinder Mensch brauche man mehr Zeit für die Wahrnehmung. Sich rasch einen Überblick zu verschaffen, sei nicht möglich, auch komme man nicht so schnell zum Ziel. «Trotzdem ist die Wahrnehmung nicht von einer schlechteren, sondern einfach von einer anderen Qualität. Ich habe sogar das Gefühl, dass ich auf diese Weise viel mehr wahrnehme.»