Schwerpunkt 28. Dezember 2022, von Rita Gianelli

Künstliche Hände können ein Stück Leben zurückgeben

Hände

Adrian Müller hat statt seiner linken Hand Prothesen. Damit hat er in sein Leben zurückgefunden. Möglich ist dies dank einer ausgefeilten, elektronisch gesteuerten Technologie.

Kein anderer Körperteil weist so viele Knochen auf wie die menschliche Hand. Rund ein Viertel aller Knochen des menschlichen Körpers befindet sich in den Händen. Die Hand ist aus 27 Einzelknochen aufgebaut: acht Handwurzelknochen, fünf Mittelhandknochen und 14 Fingerknochen. Gelenke und Bänder verbinden sie miteinander. 33 Muskeln im Unterarm sorgen dafür, dass die Hand die gewünschten Bewegungen ausführt.

Die Hände stehen immer im Mittelpunkt des menschlichen Alltags. Wahrscheinlich deshalb sind Handverletzungen und -beschwerden so häufig. «Der Grossteil der Amputationen infolge Arbeits-, Autounfällen oder Tumorerkrankungen betrifft weltweit betrachtet die Hand», sagt Patrick Meier, stellvertretender Leiter der Technischen Orthopädie der Rehaklinik Bellikon.

Drei Hände

Die Klinik hat sich auf Unfallrehabilitation, berufliche Wiedereingliederung und Prothetik spezialisiert. Im Foyer der Institution geht es ruhig zu und her. Ein Stockwerk weiter unten herrscht dagegen emsiger Betrieb. An elf Arbeitsplätzen schleifen, bohren, schrauben und schneiden die Orthopädisten und Orthopädistinnen, Silikontechniker und -technikerinnen verschiedene Arten von Prothesen – je nach Bedürfnis der Patienten.

Adrian Müller erlangte nach hundert Operationsstunden und monatelanger Schmerztherapie dank einer künstlichen Hand seine Arbeitsfähigkeit zurück.

Einer von ihnen ist Adrian Müller. Er befindet sich gerade in der Klinik zur Kontrolle und Wartung seiner Prothese. Bei einem Arbeitsunfall mit einer Landwirtschaftsmaschine hat er eine Hand ganz und die zweite fast verloren. Nach hundert Operationsstunden und monatelanger Schmerztherapie erlangte er dank einer künstlichen Hand seine Arbeitsfähigkeit zurück.

Die ästhetische und die praktische Prothese

Genau genommen hat er zwei Pro­thesen, je nach Bedarf. Eine, deren Hand äusserlich kaum von einer ech­ten zu unterscheiden ist. Diese benützt er bei Kundenkontakten oder privaten Anlässen. Sie besteht aus ei­nem integrierten elektronischen Ell­­bogengelenk und einer Hand mit ei­nem Aluminiumgrundskelett. Da­rüber gestülpt ist eine Innenhand aus Kunststoff; diese wiederum ist von einem hautfarbenen Handschuh aus PVC überzogen, für die kosmetische Wirkung.

Meistens und viel lieber aber trägt Adrian Müller den Hook, eine Arm-/Handprothese mit zwei Greifhaken aus Titan. Damit kann der gelernte Karosseriespengler seine Arbeit im Hausdienst und als Sicherheitsbeauftragter in einer Abfallbewirtschaftungsfirma ausüben wie vor dem Unfall.

Dank dem Hook bin ich wieder auferstanden.
Adrian Müller, Sicherheitsbeauftragter mit Handprothesen

«Dank dem Hook bin ich wieder auferstanden», sagt er. Damit könne er sämtliche handwerklichen Arbeiten wie Schrauben, Schmirgeln und Wischen genauso ausführen wie die Administration auf dem Computer. «Einfach langsamer», fügt er hinzu, während er mit seiner rechten Hand die Prothese abnimmt und dann zur Kontrolle dem Orthopädisten überreicht.

Den Alltag neu einüben

Müllers zwei Prothesen sind myo­elektrisch gesteuert. Wenn er also mit dem Hook einen Sack zubinden will, sendet er via Muskelkontraktion Signale an seinen Bizeps (beugen) oder Trizeps (strecken). Die Elektroden, die in der Prothese verbaut sind, nehmen diese Signale auf und leiten sie an die Prothese – seinen Hook – weiter. So kann er Dinge greifen und wieder loslassen.

Eine schnelle Kontraktion des Muskels steuert die Drehung, eine langsame Kontraktion öffnet und schliesst den Hook. Das bedeutet, dass Adrian Müller von der Dreh- auf die Greiffunktion umschalten kann, was ihm zum Beispiel das selbstständige Autofahren und das Anziehen der Kleider ermöglicht.

Das Wunder sind die Menschen, denen ich nach dem Unfall ein neues Leben verdanke.
Adrian Müller, Sicherheitsbeauftragter mit Handprothesen

«Diese Muskelkontraktionen sind gedankengesteuert. Sie müssen einstudiert und immer wieder trainiert werden», erklärt der Werkstattleiter Patrick Meier. «Hat man es einmal verinnerlicht, verlernt man es nicht mehr, so wie zum Beispiel das Radfahren.»

Regelmässig zur Reparatur

Jetzt sitzt Adrian Müller mit blossem Oberkörper auf einem Hocker in der Werkstatt, neben ihm der Orthopädist vor dem Computer. Gemeinsam passen sie den Kontakt der Elektroden mit der Haut an. Die Passgenauigkeit sorgt für optimale Funktion. Auch Reparaturen fallen durch das tägliche Tragen der Prothese regelmässig an. «Das Wunder», so Müller, «sind die Menschen, denen ich nach dem Unfall ein neues Leben verdanke.»

Beim Feierabendbier fällst du halt auf, wenn du nur mit Strohhalm trinken kannst.
Adrian Müller, Sicherheitsbeauftragter mit Handprothesen

Natürlich sei es zuerst schwierig gewesen, seine Partnerin nicht mehr wie früher umarmen zu können, sagt er. Aber damit hätten sie sich arrangieren können. Auch auf das geliebte Snowboarden musste er verzichten, weil sich durch das Tragen der Prothese sein Gleichgewichtsgefühl verändert hat. Stattdessen hat er wieder auf das Skifahren gewechselt. Er hadert einzig damit, dass er sein Glas nicht mehr ganz zum Mund führen kann. «Beim Feierabendbier fällst du halt auf, wenn du nur mit Strohhalm trinken kannst.»

Die Eisenhand des Ritters

Übrigens: Was die Fachleute heute in Bellikon und anderswo machen, ist eine alte Wissenschaft mit modernen Mitteln. Seit je versuchen die Menschen, verlorene Gliedmassen durch künstliche Körperteile zu ersetzen. Bereits vor 6000 Jahren fertigte man im alten Ägypten Prothesen an. Der berühmteste Träger einer Handprothese ist wohl der fränkisch-schwäbische Ritter Götz von Berlichingen. Er verlor seine Hand im 16. Jahrhundert im Krieg und zog fortan mit einer «eisernen Hand» für die Gerechtigkeit in den Kampf. Johann Wolfgang Goethe widmete dieser kraftvollen Gestalt sogar ein Schauspiel.