Es ist an einem Dienstagnachmittag in Zürich. Marie-Louise Barben, Brigitte Lauffer und Edy Hubacher betreten die Konditorei Schober an der Napfgasse im Oberdorf. Die Zeitung «reformiert.» hat sie zum Gespräch ins Lokal mit über hundertjähriger Tradition und legendärer Patisserie eingeladen. Die drei kennen sich nicht, machen aber sogleich Duzis, beginnen zu plaudern.
Nachdem sie an der Theke Apfelstrudel, Apfelkuchen und Zitronentörtchen bestellt haben, gehen sie in den ersten Stock. Der Raum wirkt wie eine rote Plüschhöhle, mit barock anmutenden Sesseln und Tischen und gedämpftem Licht. Der ehemalige Zehnkämpfer und Bobfahrer Hubacher, ein Zweimetermann, muss wegen der tiefen Decke den Kopf einziehen. Die drei machen es sich in drei Plüschsesseln rund um einen kleinen Tisch bequem. Wir eröffnen das Gespräch mit einer Vorstellungsrunde.
Herr Hubacher, wer sind Sie?
Edy Hubacher: Das ist untypisch für mich, dass ich anfangen soll. Können nicht die Damen beginnen? Das gehört sich doch so.
Marie-Louise Barben: Du wurdest gefragt, also darfst du antworten.
Hubacher: Na gut. Ich wurde in Bern geboren und fühle mich auch heute noch als Berner, obwohl ich nicht in der Stadt wohne. Als ich 14 Jahre alt war, zogen meine Eltern nach Jegenstorf im Berner Mittelland. Dort wuchs ich quasi im Schlosspark auf, denn wir wohnten im Gärtnerhäuschen. Ich wurde Primarlehrer und trat mit knapp 20 Jahren meine erste Stelle an einer Gesamtschule im Berner Oberland an. Dort unterrichtete ich 40 Kinder von der ersten bis zur neunten Klasse in einem Zimmer. Das hat mich gelehrt, was mein Leben lang wichtig blieb: Disziplin, Disziplin, Disziplin.
Wo brauchten Sie Disziplin?
Hubacher: Im Vorbereiten der Schullektionen auf vier verschiedenen Stufen. Später für das harte, vielseitige Training als Leichtathlet und Bobfahrer. Heute mache ich jeden Morgen im Bett als Erstes eine halbe Stunde Gymnastik.
Brigitte Lauffer: Und ich gehe im Sommer jeden Morgen im nahen Zürichsee schwimmen. Doch wer bin ich? Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in Zollikon. Damals war Krieg, das hat mich wohl am meisten geprägt. Ich war acht, als der Zweite Weltkrieg begann, und 14, als er zu Ende war. Nach dem Gymnasium liess ich mich zur Lehrerin ausbilden, wurde Mutter von vier Kindern. Später war ich zwölf Jahre im Zürcher Kirchenrat. Heute bin ich 87 Jahre alt, Grossmutter und Urgrossmutter. Es geht mir zum Glück immer noch sehr gut. Und ich bin seit 63 Jahren mit meinem Mann zusammen, das ist schön.
Und wer sind Sie, Frau Barben?
Barben: Ich wurde dieses Jahr 80. Ich bin dankbar für mein Leben, obwohl es nicht immer problemlos verlief. Auch bin ich froh, in einem Land zu leben, das gut funktioniert und ein verlässliches Rechtssystem hat. Das ist nicht selbstverständlich. Als ich um die 40 war, hat der Feminismus mein Leben verändert.
Erzählen Sie.
Barben: Meine erste feministische Regung hatte ich allerdings bereits mit elf. Ich wuchs in einer bürgerlichen Familie in Interlaken auf. Wir waren drei Schwestern, und als unser Bruder, ein Nachzügler, geboren wurde, sagten manche Leute: «Endlich ein Stammhalter im Dreimädelhaus!» Es klang, als ob er mehr wert sei als wir Mädchen. Später wurde die Frauenbewegung zum Wendepunkt in meinem Leben.
Inwiefern?
Barben: Ich kam in den Siebzigerjahren mit ihr in Kontakt, als ich als Sekretärin arbeitete. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Gleichberechtigung hat mich ermächtigt, mit 45 Jahren auf dem zweiten Bildungsweg zu studieren. Meine Zeit als Hausfrau und Mutter war nicht die glücklichste gewesen. Ich liebe meine drei Kinder, sie sind sehr wichtig für mich. Aber ich spürte damals, dass da noch etwas mehr sein musste. Eine meiner Töchter sagte einmal: Mit dir konnte man erst reden, als du zu arbeiten begonnen hast! Heute engagiere ich mich für die Grossmütter-Revolution.
Lauffer: Davon habe ich gehört. Was macht ihr da genau?
Barben: Das Projekt ist von Migros Kulturprozent. Die Rolle der älteren Frauen soll in der Gesellschaft mehr Gewicht erhalten. Ich befasse mich seit Längerem mit der Alterspolitik. Mein Anliegen ist, dass ein Leben in Würde bis ins hohe Alter möglich ist.
«Das hohe Alter ist ein Frauenuniversum. Frauen werden älter als Männer und hochaltrige Menschen grösstenteils von Frauen betreut. Die Gesellschaft sollte diese Betreuungsarbeit mehr würdigen.»
Marie-Louise Barben, 80
Lauffer: Wird heute über das Alter gesprochen, geht es oft ums Geld. Es fehlen Pflegeplätze, die Betreuung kostet zu viel. Ich lese immer wieder über die Krankheiten von uns Hochaltrigen, vor allem über Demenz. Das stimmt mich traurig.
Welche Geschichten des Alters müssten denn erzählt werden?
Lauffer: Ich lese wenig darüber, wie man im hohen Alter noch einigermassen selbstständig leben kann und wo man Hilfe bekommt.
Hubacher: Mit diesen Artikeln geht es mir ähnlich. Obschon ich Gebresten habe, bin ich noch gut zwäg. Ich fühle mich nicht alt. Vielleicht, weil ich häufig mit jungen Menschen Kontakt habe. Ich engagierte mich etwa freiwillig in Projekten mit jungen geistig beeinträchtigen Menschen. Und ich lebe mit meiner Frau, der Tochter, der Enkelin und der anderthalbjährigen Urenkelin in einem Viergenerationenhaus.
Barben: Wir gehören alle drei zu den Golden Agers. Wir haben eine gute Ausbildung, sind relativ fit. Die Freizeit- und Reiseindustrie hat uns längst als Zielgruppe entdeckt.
Lauffer: Aber mit 85 Jahren kommt ein Bruch, der kommt auf euch beide noch zu! Seit damals merke ich, dass ich alt werde. Ich kann nicht mehr so schnell gehen, habe Mühe mit dem Gleichgewicht. Und das Gedächtnis – bis ich mir den Namen Hubacher merken konnte! (lacht)
Jetzt nimmt Brigitte Lauffer einen Schluck von ihrer heissen Schokolade. Sie schmunzelt: Sie schmecke noch genau gleich wie vor 65 Jahren, als sie hier im «Schober» mit ihrem Mann nach der Uni einkehrte. Die 87-Jährige tritt ebenso bescheiden auf wie Marie-Louise Barben, die reflektiert über ihr Leben erzählt, es in Zehn-Jahres-Phasen einteilt und politische Themen ins Gespräch einbringt. Edy Hubacher ist zunächst zurückhaltend. Ins Erzählen kommt er bei seinen Erlebnissen aus den Sechzigerjahren, als der Spitzensport in seinem Leben eine wichtige Rolle spielte.
Hubacher: Als Lehrer in Schwendibach konnte ich nicht effizient trainieren, weil es so abgeschieden war. Der Nachbar, ein Bauer, hatte mir eine Hantel gebastelt aus zwei Betonklötzen und einer alten, rostigen Stange dazwischen. Ich konnte mich manchmal eine Woche lang nicht rasieren, weil die Haut aufgeschürft war.
Barben: Du warst also gar nie Profi, sondern Amateur?
Hubacher: Zu meiner Zeit gab es in der Schweizer Leichtathletik keine Profis. Der Sport war für mich eine Notwendigkeit und ein Ausgleich. Als ich Lehrer in Iffwil war, absolvierte ich das Krafttraining in meiner Waschküche; zum Techniktraining fuhr ich am Mittwochnachmittag und jeden Monat an einem Wochenende nach Magglingen. In den langen Schulferien im Sommer konnte ich Trainingslager im In- und Ausland besuchen. Dass wir dafür nichts bezahlen mussten, war ein Ansporn, noch härter zu trainieren. Als der rechte meiner Segeltuchschuhe vom Kugelstossen abgewetzt war, tauschte ich mit einem Hammerwerfer, bei dem war der linke abgewetzt.
Frau Lauffer, Sie sagten, der Zweite Weltkrieg habe Sie geprägt.
Lauffer: Wir mussten das Essen mit Lebensmittelmarken kaufen und hatten viel weniger als Kinder, die heute in der Schweiz aufwachsen. Aber wir lebten in der vom Krieg verschonten Schweiz, das bedeutete uns alles. Natürlich war es eine schreckliche Zeit, wenn man weiss, was passiert ist. Doch uns schweisste die Bedrohungslage zusammen. Meine Kindheit habe ich als gute Zeit in Erinnerung. Wir hatten Freude am Militär. Wir glaubten, dass es uns beschützt. Das ist mir bis heute geblieben: Ich freue mich, wenn ich Männer in Uniform sehe.
Barben: Das kenne ich. Mein Vater war im Aktivdienst. Wenn er übers Wochenende heimkam, behielt er seine Uniform an. Wir Kinder spazierten sonntags gerne stolz mit ihm über den Höhenweg in Interlaken. Später führte das Thema Landesverteidigung zu Konflikten, weil mein Vater nicht verstehen konnte, warum wir Kinder die abschreckende Wirkung der Schweizer Armee als Mythos betrachteten und 1989 sogar für die Abschaffung der Armee stimmten.
Lauffer: Wir wussten, dass Hitler böse war. Ich erinnere mich, wie wir angstvoll seiner Stimme im Radio lauschten. Doch das ganze Ausmass der Katastrophe mit der Judenverfolgung durch die Nazis kannten wir nicht. Von den Verstrickungen der Schweiz erfuhr ich erst, als die Geschichte aufgearbeitet wurde.
Hubacher: Als Sportler trug ich das Schweizer Trikot immer mit Stolz. Der wurde jedoch abgeschwächt, als ich mit meinen Klassen über die Rolle der Schweiz während des Nationalsozialismus sprach. Ich wollte, dass sie verstehen, wie ungeheuerlich es war, dass sich so viele Menschen von einem grässlichen Demagogen mitreissen liessen.
«Ich bin dankbar, dass mein Leben so gut verlaufen ist, obwohl ich viele Dinge falsch gemacht habe. Und manchmal freue ich mich auch nur darüber, etwas wiederzufinden, das ich vermisst habe.»
Edy Hubacher, 78
Lauffer: Mich nimmt nun aber noch ein ganz anderes Thema wunder. Wie habt ihr beide es eigentlich mit der Digitalisierung? Ich kann am Handy SMS schreiben, an meinem Tablet mailen oder am SBB-Automaten ein Billett kaufen. Aber mehr kann ich nicht. Die Zeitungsartikel, in denen es um Algorithmen geht, verstehe ich nicht. Und ich frage mich dann immer: Müsste ich das eigentlich verstehen?
Barben: Ich bin nicht bei Facebook oder Instagram und verstehe auch vieles nicht. Aber das Smartphone und den Computer brauche ich schon für meine Arbeit.
Hubacher: Ich brauche meinen Laptop für die Rätsel, die ich produziere. Bei der Morgengymnastik jasse ich gerne zwischen den Übungen auf dem Handy. Und wir haben einen Familienchat auf Whatsapp. Der ist wichtig, weil ich auf diese Weise mit der Tochter und den beiden Enkelinnen, die in Australien leben, verbunden bin. Ansonsten bin ich für echte Begegnungen.
Lauffer: Ich habe keinen Computer und kann kein Online-Banking machen. Ich zahle Rechnungen brieflich mit einem Zahlungsauftrag. Jetzt werden mir neu dafür Spesen berechnet. Das finde ich nicht gut.
Barben: Du würdest es sicher leicht lernen können. Aber du willst halt nicht. Das ist etwas anderes.
Ist es das Privileg des Alters, dass man manche Entwicklungen nicht mehr mitmachen muss?
Barben: Nein zu sagen, muss man in jeder Lebensphase lernen. Jasagen aber auch.
Lauffer: Ist man so alt wie ich, muss man nur selten Nein sagen. Kaum jemand will etwas von mir. Möchte mir jemand am Telefon eine Krankenversicherung verkaufen, frage ich: «Machen Sie das auch für Neunzigjährige?» Dann ist grad fertig.
Hubacher: Der gleiche Trick funktioniert schon mit 75.
Barben: Aber eure Familien wollen doch sicher noch etwas von euch. Könnt ihr da auch Nein sagen?
Lauffer: Da werde ich schon noch gebraucht, das freut mich ja auch. Die Maturarbeit der Enkel korrigieren mein Mann und ich gerne. Die Kinder mahnen immer, dass die Enkel uns nicht zu viel zumuten. Gross wehren muss ich mich nicht.
Zum Glück bin ich nicht mehr 30: Denken Sie das ab und zu?
Lauffer: Schon manchmal. Ich lebe sehr gerne, aber all diese Kriegsgräuel und wie wir die Welt zerstören, das macht mir zu schaffen. Es wird immer schlimmer.
Das sagen Sie, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs aufwuchs?
Lauffer: Ja. Ich erlebe die heutige Zeit als sehr unsicher.
Hubacher: Da bin ich nicht ganz der gleichen Meinung. Schlimmer als der Genozid an den Juden im Zweiten Weltkrieg kann es nicht mehr werden. Früher war nicht alles besser. Wir wussten einfach von vielem nicht, was passierte, und verklären die Vergangenheit. Heute verbreiten die Medien jede Gräueltat sofort. Ich sollte endlich diese Push-Nachrichten auf meinem Handy abschalten, die bringen nur Verbrechen und Unfälle. Für mich hingegen ist Dankbarkeit zentral.
Und wofür sind Sie dankbar?
Hubacher: Dass mein Leben so gut verlaufen ist, obwohl ich viele Dinge falsch gemacht habe. Ich bekam vieles geschenkt: dass ich eine harmonische Familie habe, oder dass ich mich mit dem abfinden kann, was heute nicht mehr geht. So kann ich meinen rechten Arm wegen einer degenerativen Erkrankung der Halswirbel nicht mehr heben.
Barben: Bereust du etwas?
Hubacher: Um das zu beantworten, bräuchte ich viel mehr Zeit. In persönlichen Beziehungen habe ich sicher Fehler gemacht. Und ich hätte früher das Stabhochspringen lernen sollen. Dann wäre ich im Zehnkampf besser geworden als nur einmal Schweizer Meister (lacht). Und wie ist das bei dir?
Barben: Bereuen tue ich nichts. Aber wenn ich nochmals zurück könnte, würde ich meinen beruflichen Weg gerne früher aktiv gestalten.
Lauffer: Das war früher viel schwieriger als heute! Unsere Töchter haben es in dieser Hinsicht schöner. Ich freue mich für sie, dass sie arbeiten dürfen.
Barben: Das stimmt. Andererseits war es in den Siebzigern viel einfacher als heute, eine Stelle zu finden. Nach zehn Jahren Familienpause konnte ich mir damals aus mehreren Angeboten eine Stelle als Teilzeitsekretärin aussuchen. Das wäre heute unmöglich.
Lauffer: In den Sechzigerjahren hätte ich gerne als Lehrerin gearbeitet. Aber es gab zu dieser Zeit fast keine Teilzeitstellen, weil der damalige Erziehungsdirektor der Ansicht war, man könne einem Schulkind nicht zwei Lehrer zumuten.
Später waren Sie zwölf Jahre lang Kirchenrätin und somit eine Führungsfrau.
Lauffer: Ich habe schon vorher als Lehrerin meinen Mann vertreten, wenn er im Kantonsrat oder im Militär war. Und ich war Präsidentin der FDP-Frauen Zürich, nachdem 1971 das Frauenstimmrecht eingeführt worden war. Ich half mit, für die FDP Frauen zu suchen, die sich für Behörden und öffentliche Ämter aufstellen liessen. Das war eine spannende Zeit. Ich habe viel gelernt. Vor allem, wie man als Frau vor Männer hinstehen und zu ihnen sprechen muss. Das kam mir später als Kirchenrätin sehr zugute.
Muss man denn anders sprechen mit den Männern?
Lauffer: Meine Erfahrung ist, dass Männer schneller als Frauen davon ausgehen, dass sie recht haben. Ich musste jeweils ideenreich sein, um meine Ziele zu erreichen.
Zum Beispiel?
Lauffer: Als ich gerade neu im Kirchenrat war, kam eine Anfrage aus der Synode: Kann man auch in einem Konkubinat eine christliche Beziehung führen? Ich war für Familienthemen zuständig. Ich habe die Frage dann mit einer Gruppe aus Juristen und Theologen bearbeitet, und wir kamen zum Schluss: Ja, man kann. Doch einige meiner Kirchenratskollegen, alles Männer, drucksten herum und meinten: Sie wüssten nicht, ob man der Synode so antworten könne. Ich wusste aber, dass ihre Söhne und Töchter – wie meine eigenen – fast alle im Konkubinat leben, und fragte: «Glaubt ihr wirklich, dass eure Kinder unchristliche Beziehungen leben?» So haben sie es begriffen.
Eine Frau zu überzeugen, wäre einfacher gewesen?
Lauffer: Ja. Eine Frau muss gegenüber Männern besser argumentieren, als das ein Mann müsste. Ich habe aber immer gern mit Berufskollegen zusammengearbeitet.
«Ich habe keinen Computer und kann kein Online-Banking machen. Ich bezahle meine Rechnungen brieflich mit einem Zahlungsauftrag. Jetzt werden mir neu dafür Spesen berechnet. Das finde ich nicht gut.»
Brigitte Lauffer, 87
Barben: Als Frau musst du dich vom Gedanken verabschieden, von allen geliebt zu werden. Du darfst keine Angst haben anzuecken. Oft ist das sogar nötig. Das ist das Wichtigste, das ich während meiner zehn Jahre als Gleichstellungsbeauftragte des Kantons Bern gelernt habe.
Lauffer: Ich war sehr gerne Kirchenrätin. Wir konnten viel bewegen, zum Beispiel war es innert weniger Wochen möglich, das Lighthouse, ein Sterbehospiz für Aidskranke, zu ermöglichen, indem wir als Kirche finanziell dafür bürgten.
So einfach ging das aber nicht.
Lauffer: Stimmt. In der Synode sagte jemand, Aids sei eine Geissel Gottes, die Kirche brauche sich nicht um die Kranken zu kümmern. Ich wurde so wütend, ich habe fast geweint. Ich weiss nicht mehr, was ich dann sagte, aber am Schluss haben die Synodalen geklatscht.
Barben: Damals herrschte in der Kirche Aufbruchstimmung. Ich habe es miterlebt, weil ich mir mein Zweitstudium mit einem Teilzeitjob bei einer kirchlichen Arbeitsstelle in Bern verdiente. Damals wollte die Kirche in die Gesellschaft hineinwirken. Heute befasst sie sich fast nur noch mit ihren eigenen Strukturen.
Marie-Louise Barben, die linkspolitische Frauenbewegte, und Brigitte Lauffer, die bürgerliche Kirchenfrau, verkörpern nur auf den ersten Blick Gegensätze. Im Laufe des Gesprächs entdecken sie viele Parallelen in ihren Biografien. Obwohl Lauffer niemals wie Barben für die Abschaffung der Armee gestimmt hätte. Nach dem Gespräch werden sie ihre E-Mail-Adressen austauschen. Die Kaffeerunde scheint sich schon dem Ende zuzuneigen, als Edy Hubacher noch einen Café Mélange bestellt und erzählt.
Hubacher: Ein Wendepunkt in meinem Leben war, als wir unseren Sohn Marc verloren. Er war erst 23 Jahre alt. Als engagierter Christ half er mit einer Jugendgruppe auf den Philippinen beim Erstellen einer Wasserleitung für den Reisanbau. Danach wollte er allein einen befreundeten Pfarrer besuchen. Wie wir erst ein halbes Jahr später erfuhren, war er bei der Besteigung eines Vulkans tödlich verunglückt. Marc hat mir den Weg gezeigt. Das macht mich dankbar.
Barben: Dankbar? Ein Kind zu verlieren, ist doch das Schlimmste.
Lauffer: Das ist meine grösste Angst, dass eines der Kinder vor mir stirbt.
Hubacher: Unserer Dankbarkeit ging eine Zeit der Trauer und des Loslassens voraus. Marc redete nicht nur von Nächstenliebe, er lebte sie. Wie wir im Nachhinein erfuhren, konnte er vielen Menschen helfen. Durch sein Vorbild bin ich Christ geworden. Nach meiner Morgengymnastik lese ich jeweils die Tageslosungen aus der Bibel.
Haben Sie Angst vor dem Sterben?
Lauffer: Nein. Ich weiss nicht, ob die Angst noch kommt, wenn der Tod näherrückt. Das werde ich sehen.
Woher diese Gelassenheit?
Lauffer: Das kann ich nicht erklären. Ich habe im Moment einfach keine Angst. Mein Leben war gut. Ich glaube, ich kann gehen, wenn es so weit ist. Trotzdem bin ich sehr dankbar, wenn ich noch einige Zeit mit meinem Mann zusammensein kann. Auch würde ich gerne noch mehr Urenkel erleben.
Hubacher: Ich würde auch gerne erfahren, was aus meinen Enkelinnen und Urenkelinnen wird. Ich habe zwar keine Mühe, älter zu werden, aber ich hoffe trotzdem, dass mir noch etwas Zeit gegönnt ist.
Als Leistungssportler konnten Sie sich auf Ihren starken Körper verlassen. Ist es schwierig zu erleben, wie der Körper Kraft verliert?
Hubacher: Nein, der Kreis schliesst sich. Als Jugendlicher war ich ein «Gstabi», jetzt bin ich wieder einer. Dazwischen habe ich Etliches gelernt und einiges erreicht. Ich orientiere mich an dem, was ich noch kann. Ich bin dankbar, wenn ich etwas wiederfinde, das ich vermisst habe. Und ich kann immer noch für Zeitschriften Rätsel kreieren. Obwohl ich mir manchmal nicht mehr recht traue und Fragen wie Antworten mit Google überprüfe.
Barben: Ich habe keine Angst vor dem Tod. Aber wie wird das Ende des Lebens aussehen? Es entzieht sich – zum Glück – ein Stück weit unserer Planbarkeit. Aber ich nehme mir immer vor, dass ich mich nicht beklagen werde, wenn es mir gesundheitlich nicht so gut geht.
Was lässt sich nicht mehr planen?
Barben: Wir gehen immer davon aus, dass es uns bis zum Schluss gutgeht – eine irrige Vorstellung. Die Realität ist, dass viele hochaltrige Menschen abhängig und unselbstständig werden. Wie ich denken und handeln werde, wenn es bei mir so weit ist, kann ich nicht voraussagen. Ich habe eine Patientenverfügung, aber damit lässt sich nicht alles regeln. Für die jüngste Studie der Grossmütter-Revolution haben wir 69 Frauen zwischen 55 und 75 Jahren befragt, was sie sich für das Lebensende wünschen. Mit den beiden Hauptergebnissen kann ich mich voll identifizieren.
Nämlich?
Barben: Bis zuletzt wollen die Frauen selbst bestimmen. Und sie wünschen sich Menschen um sich, die sie als Individuen würdigen: Freunde, Familie, verständnisvolles Pflegepersonal.
Lauffer: Geliebte Menschen um sich haben, das möchte man wohl in jeder Lebensphase.
Hubacher: Ich will es auf jeden Fall. Darum ist mir unser Viergenerationenhaus so wichtig. Meine Töchter vermieten die Wohnung im Erdgeschoss über Airbnb. Wenn meine Frau und ich die Treppe zur jetzigen Wohnung nicht mehr hochsteigen können, dürfen wir ins Parterre ziehen – ein beruhigendes Gefühl.
Barben: Nicht alle haben solche Bedingungen. Gerade deshalb sollte sich die Politik verstärkt mit dem hohen Alter befassen.
Und welchen Appell richten Sie an die Politik?
Barben: Das hohe Alter ist ein Frauenuniversum. Frauen werden älter als Männer, und auch die überwiegende Mehrheit derer, die sich um sie kümmern – Familienangehörige, Spitex, Personal in Pflegeheimen – sind Frauen. Sie bräuchten mehr gesellschaftliche Wertschätzung und müssten mehr verdienen.
Hubacher: Ich vertraue darauf, dass die junge Generation diese Fragen anpacken wird. Ich sehe viele politisch engagierte und sozial denkende Junge in unserem Umfeld. Da wächst eine neue Bewegung. Aber nun muss ich euch unbedingt noch auf dem Handy ein Foto unserer Urenkelin Lou zeigen. Sie nennt mich «Papapa», und wenn sie mich ruft, lasse ich alles stehen und liegen.