Schwerpunkt 21. März 2022, von Christian Kaiser, Idee: Susanne Kreuzer

«Faces of Jesus»: Wie sieht Ihr persönlicher Jesus aus?

Jesusbild

Lange Haare, Bart, Heiligenschein? Die christliche Bildsprache dürfte wenig mit dem historischen Jesus zu tun haben. Ein Fotograf hinterfragt gängige Vorstellungen.

1989 lancierte die Synthie-Pop-Band Depeche Mode einen Welthit: Personal Jesus. Der Refrain lautet: «Your own personal Jesus / Someone to hear your prayers / Someone who cares ... / Someone who's there». Wer hätte nicht gern so einen persönlichen Jesus, der die eigenen Gebete hört und für einen da ist? Die Sehnsucht, die in diesem Song zum Ausdruck kommt, hat Musikgeschichte geschrieben.

Eindrücklich und eindringlich sind die Coverversionen von Def Leppard, Marilyn Manson oder Nina Hagen, fast so berühmt wie das Original ist der geniale «Personal Jesus» von Johnny Cash. Jede und jeder will offenbar einen persönlichen Jesus haben, der ein bisschen gleich ist wie der der anderen, aber eben doch anders. Die ganz eigene Kopie des Originals. Hätte man tatsächlich so einen persönlichen Jesus, wie sähe der wohl aus?

Personal Jesus von Depeche Mode (1989)

Einer von uns

Massgebend für die Arbeit des Fotografen Berthold Steinhilber war ein Lied aus den 90ern: «One of Us» von Joan Osborne, auch das ein Hit, der in Ranglisten zu den besten Songs aller Zeiten zählt. Der Songtext stellt die Glaubensfrage: Was, wenn Gott einer von uns wäre – zum Beispiel ein Fremder im Bus? In diesem Lied ist Gott nicht nur gross und gut, die Sängerin fragt auch: «Wenn Gott ein Gesicht hätte, wie würde es aussehen? Und würdest du es auch sehen wollen, wenn es zu sehen bedeuten würde, dass du an Dinge glauben müsstest wie den Himmel und Jesus ...?»

Das sind genau jene Fragen, die Steinhilber interessieren: Wie sähe Jesus aus? Würde ich ihn erkennen und wenn ja woran? Oder käme er einfach daher wie einer von uns? Des Fotografen Passion: Er erforscht das Christusbild mit der Kamera und gibt den Betrachtenden so die Gelegenheit, ihrer eigenen Vorstellung von Jesus auf den Grund zu gehen. Seit 2008 portraitiert der Künstler Christusse: Männer, die Jesus darstellen. In Passionsfestspielen in Deutschland, Tschechien oder Österreich. «Sie müssen Jesus über einen längeren Zeitraum gespielt, sich mit der Figur identifiziert haben», sagt Steinhilber. Meist sind es Laien, etwa Handwerker, Künstler, Finanzbeamte – einer von uns eben – welche in die Rolle des Jesus geschlüpft sind, und ihr jeweils eigenes Christusbild ist in ihre Darstellungen eingeflossen.

One of Us von Joan Osborne (1995)

Sein eigenes Jesusbild hinterfragen

Anhand dieser 24 persönlichen Jesus-Interpretationen fragt Steinhilber: Wer ist der echte, und was macht ihn zum Original? Was für ein Bild hat unsere Gesellschaft von Jesus? Und welche Darstellung passt zu unserer eigenen Vorstellung? Seine überlebensgrossen Schwarz-Weiss-Porträts treten an Ausstellungen wortlos in den Dialog mit den Betrachtenden – auch mit jenen, die sich eigentlich nicht für den historischen Jesus oder den Christus der Evangelien interessieren.

Mit dem Antlitz von Jesus beschäftigten sich Künstler, Malerinnen und Bildhauer seit Jahrhunderten. Steinhilber sieht sich in dieser Tradition. «Mein eigenes Jesusbild prägte das Kreuz meiner Grossmutter in ihrer Küche», sagt er. Wir alle trügen solche Bildprägungen in uns, aber sie würden sich mit der Zeit verändern. Sein Jesusbild habe sich in den 14 Jahren, in denen er dem Vor-Bild mit dem Fotoapparat nachspüre, mehr und mehr aufgelöst. «Faces of Jesus» ist ein europäisches Langzeitprojekt: Gewisse Passionsfestspiele finden nur alle 4, 5, 7 oder 10 Jahre statt.

Das herkömmliche Bild auflösen

Leinenkutte, schwarzer Überwurf, Sandalen – die immer gleiche Inszenierung der Serie in Schwarzweiss zielt auf Zeitlosigkeit und Vergleichbarkeit. Dabei hat Steinhilber sich an der Frontalansicht eines Selbstbildnis' von Dürer orientiert, für die Beleuchtung nutzt er «Rembrandt-Licht» – von oben auf das Gesicht.

Und was, wenn der Echte tatsächlich um die Ecke käme? «Ich würde ihn wahrscheinlich nicht erkennen», sagt Steinhilber, «zumindest am Äusseren nicht». Vermutlich würde er noch mehr so aussehen wie «einer von uns» als die Fotografierten. Denn die Darsteller auf den Freilichtbühnen bei Passionsfestspielen müssen einem bestimmten Jesusbild genügen: lange Haare und Bart sind meist ein Muss. Dieser Jesus ist allerdings eine Erfindung der Gotik, das Jesusbild hat sich seither kaum verändert.

Der heilige Mann mit vielen Gesichtern

Prägend sind gemäss Steinhilber der Isenheimer Altar von Grünewald oder auch die Darstellungen flämischer Maler aus dem 15. Jahrhundert. Mit dem historischen Christus dürfte das verbreitete Bild von Jesus wenig zu tun haben. Die BBC zum Beispiel liess 2001 für ihre Serie «Son of God» ein forensisches Phantombild erstellen – aufgrund von auf einem Friedhof in Israel ausgegrabenen Schädeln aus dem 1. Jahrhundert. Heraus kam ein dunkelhäutiger, orientalischer Jesus mit Knollennase, breiten Backenknochen und kurzem, schwarzem Haar.

Aber natürlich hat der biblische Mann aus Nazareth viele Gesichter, nicht nur jenes des leidenden Jesus der Passion. Der Babyjesus, der vorwitzige Schüler, der Wundervollbringer, brotbrechende Gastgeber schauen jeweils anders aus und in die Welt – ob in der Kunst oder in unserer Vorstellung.

Den Glauben im Gesicht

Der amerikanische Autor und Pfarrer Frederick Buechner hat im Buch «The Faces of Jesus» geschrieben: «Das Gesicht Jesu ist schliesslich unser eigenes Gesicht, so wie wir alle selber ein wenig aussehen werden, wenn das Königreich kommt und wir endlich wahrhaft wir selber sind, Brüder und Schwestern für einander und Kinder Gottes.

Depeche Mode verliehen dem Verlangen nach einem Gegenüber aus Fleisch und Blut eine Stimme, auch dem Sehnen nach Berührenkönnen und Berührtwerden. In «Personal Jesus» heisst es zu guter letzt: «reach out and touch faith», streck die Hand aus und berühre den Glauben. Manche verhören sich und denken die Aufforderung laute: «reach out and touch face». Und da ist womöglich etwas dran: e3in Gesicht zu berühren – oder sich von einem berühren zu lassen – hilft vielleicht zu glauben.

«Faces of Jesus»: Grossformatige Porträts von Jesusdarstellern

Das Langzeit-Projekt des deutschen Fotografen Steinhilber: das Jesusbild fotografisch erforschen. Seit 2008 portraitiert er Schauspieler, die in in Passionsfestspielen in ganz Europa Jesus spielen. Den Fotografen interessiert ein besonderer Mechanismus, man könnte es auch Automatismus nennen; treffen wir im Aussen auf eine Jesusdarstellung, gleichen wir sie mit dem Bild von Jesus ab, das wir in uns tragen. Steinhilber fragt: Wer ist der Echte, und was macht ihn zum Original? Das Mittel, mit dem er solche Fragen stellt, ist die Kamera. Berthold Steinhilber hat sich ein Credo des amerikanischen Fotografen Lewis Hine (1874 - 1940) zu eigen gemacht: «Wenn ich eine Geschichte in Worten erzählen könnte, müsste ich keine Kamera herumschleppen.»

Personal Jesus von Johnny Cash (2002)