Schwerpunkt 27. Dezember 2023, von Anouk Holthuizen, Mirjam Messerli

Darum sind Redaktionsmitglieder von der Kirche überzeugt

Warum Kirche

Weit und bereichernd erleben sie ihren Glauben: Drei Mitglieder der «reformiert.»-Redaktion sehen die Kirche als Institution, die für die Gesamt­gesellschaft da sein soll.

Seid ihr an Weihnachten in der Kirche gewesen?

Felix Reich: Ja, am Weihnachtsmorgen gehe ich immer in die Kirche.

Isabelle Berger: An Heiligabend war ich an der Christnachtfeier in meiner Kirchgemeinde.

Constanze Broelemann: Ich war am Heiligen Abend im späten Gottesdienst, dieses Mal in Deutschland, weil ich selbst keinen Dienst hatte.

Wie oft besucht ihr Gottesdienste?

Constanze: Als Pfarrerin leite ich hin und wieder Gottesdienste, aber ich gehe auch privat.

Isabelle: Ich gehe an Feiertagen wie Weihnachten oder Ostern in den Got-tesdienst, ab und zu auch in den Taizé-Gottesdienst oder wenn ich eine aktive Rolle habe. Sei es, weil ich Musik mache oder einen Part in der Liturgie übernehme. Seit ich Kirchgemeinderätin bin, kommt das öfter vor als früher.

Felix: Im Moment besuche ich den Gottesdienst eher selten. Eure Frage klingt für mich ein wenig nach Kontrolle. Ich kann mich ja der Kirche auch verbunden fühlen, wenn der Gottesdienst gerade nicht in meinen Lebensrhythmus passt. Wenn ich die Kirchenglocken höre, bin ich dankbar, dass die Gemeinde Gottesdienst feiert – durchaus auch stellvertretend für mich. Ich besuche selber aber gern Gottesdienste und suche sie gezielt aus. In einer Kirche ist mir auch das Raumgefühl wichtig.

Wer predigt, spielt keine Rolle?

Felix: Doch, auch. Eine gute Predigt kann mich begeistern. Aber wenn mir eine Kirche gefällt, kann ich auch gut mit einer Predigt leben, die mir inhaltlich weniger zusagt. Mir ist wichtig, dass die Liturgie stimmt, das ist ein Stück Heimat für mich. Der Gottesdienst sollte einen roten Faden haben und auch gut vorbereitet sein.

Constanze: Als Zuhörerin bin ich Predigten gegenüber eher grosszügig und versuche, nicht zu stark zu wer-ten. Wahrscheinlich, weil ich selber Pfarrerin bin und weiss, wie anspruchsvoll es ist, eine gute Predigt zu halten. Hier in Graubünden ist die Dorfkirche noch typisch. In Städten sind Gottesdienste sicher anders gestaltet. Ich besuche auch gern mal eine katholische Kirche, aber eher wegen des Raumes.

Der Glaube verbindet mich über den Gottesdienst hinaus mit anderen Menschen.
Isabelle Berger, Redaktorin Bern

An welchen anderen Orten praktiziert oder spürt ihr euren Glauben?

Isabelle: Der Glaube verbindet mich über den Gottesdienst hinaus mit anderen Menschen. Ich habe zum Beispiel im Kirchgemeinderat mitgeholfen, einen Adventsabend für ältere Personen zu organisieren. Mir gefallen niederschwellige Anlässe, an denen Menschen zusammenkommen. Musik ist überdies wichtig für meine eigene Spiritualität – wenn ich selber Musik mache, singe oder einfach zuhöre.

Constanze: Oftmals muss ich schauen, dass genug Raum für meine eigene Spiritualität bleibt. In meinen Rollen als Pfarrerin, Religionslehrerin und Redaktorin sind die Themen Glauben und Kirche vor allem für andere reserviert. Den Religionsunterricht in der Schule habe ich als neue, spannende Herausforderung entdeckt. Ich denke, es ist überaus wichtig, Kindern und Jugendlichen etwas von den christlichen Traditionen mitzugeben.

Wer hat euch diese Werte mit auf den Weg gegeben?

Constanze: Vor allem meine Mutter war es, die uns mit dem Christentum in Kontakt brachte. Mein Vater stammt aus einer Unternehmerfamilie, in der man sich mit Kirche eher im grossbürgerlichen Sinn befasste. Dort hinzugehen, gehörte zum guten Ton. Meine Mutter brachte uns Kindern den Glauben näher. Und bei mir ist offensichtlich etwas davon hängen geblieben. Ich wollte mehr darüber wissen, und deshalb habe ich Theologie studiert.

Felix: Ich bin in einem Pfarrhaus auf dem Land aufgewachsen. Die Kirche hat meinen Alltag als Kind sehr geprägt. Wir besuchten oft den Gottesdienst. In Abendgottesdiensten bin ich oft eingeschlafen, weil mir die Stimme des Vaters so vertraut war. Rituale spielten eine grosse Rolle, verbunden mit Liedern und biblischen Geschichten. Das alles gab mir einen Boden.

Reformiert sein heisst auch, arbeitsam zu sein. Manchmal fehlt mir dabei ein wenig das Genussvolle, Sinnliche.
Constanze Broelemann, Redaktionsleiterin Graubünden

Auch Isabelle ist in einer Pfarrfamilie aufgewachsen. Habt ihr Druck gespürt, glauben zu müssen?

Felix: Ich empfand den Glauben nie als etwas Enges, stattdessen spürte ich dessen Weite. Ich hatte nie das Gefühl, ich müsse etwas glauben, und brauchte mich deshalb auch nie abzugrenzen. Dafür bin ich dankbar. Mein Elternhaus stand anderen Menschen immer offen. Ich lernte, dass Glaube etwas ist, was über mich hinausgeht und mich in geheimnisvoller Weise trägt.

Constanze: Die Weite des Glaubens, die Felix gerade angesprochen hat, habe ich ebenfalls persönlich erlebt. Meine Mutter lädt bis heute gern Menschen ein, darunter auch unkonventionelle.

Isabelle: Ich war mir lange nicht sicher, ob ich mit dem christlichen Glauben etwas anfangen könnte. Aber bei uns zu Hause herrschte ebenfalls kein Druck. Ich bin auch deshalb dabeigeblieben, weil mich die Kirche niemals ausgeschlossen hat. Nie sagte jemand zu mir: Aha, du zweifelst, dann musst du gehen. Heute beschäftigt mich die Frage, was es denn eigentlich heisst, reformiert zu sein.

Hast du eine Antwort gefunden?

Isabelle: Es ist zum Beispiel die Freiheit, dass man nicht auswendig lernen muss, was man zu glauben hat. Ich darf mich selber und kritisch mit der Bibel und der Spiritualität auseinandersetzen. Ich schätze den persönlichen Charakter des reformierten Christseins. Es macht mich als Gläubige und als Mensch mündig. Das zeigt sich für mich darin, dass sich Frauen und Männer, Profis und Laien am Gottesdienst beteiligen können.

Constanze: Reformiert sein heisst auch, arbeitsam zu sein. Manchmal fehlt mir dabei ein wenig das Genussvolle, Sinnliche.

Isabelle: Ich finde, in der reformierten Kirche gibt es durchaus auch Sinnliches. Die Sinnlichkeit ist einfach weniger üppig. Aber ein bisschen «neidisch» blicke ich als Kunsthistorikerin durchaus manchmal auf das Zeremonielle oder die glitzernden Gewänder in der katholischen Kirche.

Eine Kirche, die aufgebaut ist wie das römische Imperium und die Macht allein den Männern überlässt, die halte ich schlicht nicht für christlich.
Felix Reich, Redaktionsleiter Zürich

Und du, Felix? Hättest du gern etwas mehr Glitzern?

Felix: Nein. Für mich heisst reformiert sein ganz stark gleichberechtigt sein. Meine Mutter ist ordinierte Pfarrerin. Was die Organisation der Kirche betrifft, bin ich sehr reformiert. Eine Kirche, die aufgebaut ist wie das römische Imperium und die Macht allein den Männern überlässt, die halte ich schlicht nicht für christlich. Was den Glauben an sich betrifft, sind mir Konfessionsgrenzen nicht wichtig. Mein Glaube ist durch die reformierte Theologie geprägt, er ist in allererster Linie jedoch christlich.

Constanze: Ich finde das Frauenthema bei den Katholiken auch schwierig. Aber ich kenne auch sehr offene Leute bei den Katholiken: So durfte ich in Deutschland gemeinsam mit dem Priester mein katholisches Patenkind taufen.

Felix, du hast drei Töchter. Wie gibst du deinen Glauben weiter?

Felix: Mir ist es wichtig, den Glauben in dieser Weite und Selbstverständlichkeit weiterzugeben, wie ich ihn kennenlernen durfte. Ich bin überhaupt kein Bekehrungs-Typ. Meine Religiosität lebt stark davon, darin aufgewachsen zu sein. Ich hoffe, dass es mir gelingt, meinen Töchtern eine solche Geborgenheit zu vermitteln. Auch wenn einem der Glaube zwischendurch vielleicht nichts sagt, hat man doch einen Rucksack, den man auspacken kann, wenn es nötig wird. So erlebe ich es: Das können Lieder aus der Sonntagsschule sein, die ich singe, wenn ich Angst habe und mir die Worte fehlen. Ich möchte meinen Kindern mitgeben, dass Glaube nicht etwas ist, was dir eingetrichtert wird, sondern etwas, was dir einen Boden gibt.

Kirche ja eben gerade für alle da. Ich kann aber nachvollziehen, wenn der Sonntagmorgen für viele eher Familien- denn Gottesdienstzeit ist. Viele Gemeinden bieten deshalb bereits andere Zeiten für Gottesdienste an.
Constanze Broelemann, Redaktionsleiterin Graubünden

Und wie machst du das konkret?

Felix: Als meine Töchter klein waren, erzählte ich ihnen Geschichten, zum Beispiel «Der Weihnachtsnarr» von Max Bolliger. Wenn ich diese Geschichte lese, denke ich: Das ist Weihnachten, das ist Christentum, darum geht es. Jetzt, wo sie grösser sind, versuche ich, offen zu sein für ihre Fragen. Sie gehen in den kirchlichen Unterricht, daraus ergeben sich im schönsten Sinn herausfordernde Gespräche.

Constanze: Ich habe keine eigenen Kinder, aber Nichten und Neffen und die Schülerinnen und Schüler. Da beobachte ich: Es steht und fällt mit den Eltern, welche Haltung Kinder zum Glauben entwickeln. Wenn mir ein Erstklässler sagt: «Das mit Jesus, das interessiert mich im Fall nicht so», dann kommt das nicht in erster Linie von ihm. Sind die Eltern gegenüber Religion nicht offen oder wenigstens neutral, kann man die Kinder schwerer erreichen. Das ist schade, denn sie verlieren dadurch die Chance, Glauben und christliche Traditionen als Kraftquelle zu erfahren und kennenzulernen.

Felix: Für mich geht es nicht nur ums Vermitteln, sondern auch ums Vorleben. Ist Weihnachten ein Fest, das man einfach feiert – was ja schön sein kann –, oder signalisiert man jedes Jahr, dass diese Geschichte etwas mit unserem Leben zu tun hat? Da passierte etwas, das uns heute noch berührt und bewegt und das existenziell bleibt.

Warum treten so viele Menschen aus der Kirche aus?

Constanze: Wir leben in einer individualistischen Gesellschaft. Die Leute denken vielleicht: Weshalb soll ich in so einen «Verein» gehen, wenn ich Spiritualität doch auch allein leben kann? Lieber machen sie Yoga, treffen dort Gleichgesinnte, bleiben in ihrer Bubble. Lustig finde ich, dass genau diese Menschen oft denken, dass die Kirche eine Bubble ist. Dabei ist Kirche ja eben gerade für alle da. Ich kann aber nachvollziehen, wenn der Sonntagmorgen für viele eher Familien- denn Gottesdienstzeit ist. Viele Gemeinden bieten deshalb bereits andere Zeiten für Gottesdienste an.

Felix: Die Kirche hat lange von einem sozialen Druck profitiert. Es gehörte dazu, dass man sich am Sonntag im Gottesdienst zeigte. Ich bin nicht sicher, ob die Leute früher viel frommer waren. Als ich Teenager war, war es Punk, sich nicht konfirmieren zu lassen. In der Stadt Zürich ist es heute umgekehrt: Meine älteste Tochter wird in ihrer Klasse vielleicht die Einzige sein, die sich konfirmieren lässt.

Ich glaube nicht, dass es heute weniger spirituell interessierte Menschen gibt als in früheren Zeiten.
Isabelle Berger, Redaktorin Bern

Die Austrittszahlen in der reformierten Kirche sind alarmierend.

Felix: Alarmierend für wen? Natürlich braucht die Kirche eine gewisse Grösse. Aber auch eine geschrumpfte Kirche kann vielfältig und eine Kirche für das Volk sein.

Constanze: Eine gewisse Grösse ist schon wichtig, um genug Personal zu haben, das die vielfältigen Aufgaben meistern kann. Ich stelle eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Kirche fest. Früher rebellierte man vielleicht noch dagegen, heute ist sie vielen egal.

Felix: Mit diesem gesellschaftlichen Wandel muss die Kirche einen Umgang finden. Jammern ist kein Weg. Das wäre, wie wenn ich als Gastgeber einer Party über diejenigen klagte, die nicht gekommen sind.

Verkauft sich die Kirche schlecht?

Felix: Ich weiss nicht, ob es daran liegt. Viele Angebote werden ja genutzt. Zuweilen fehlt der Mut, ein Angebot einzustellen, das nicht mehr gefragt ist. Dann sollte die Kirche die Menschen selbst fragen, was sie suchen. Diesen Übergang muss die Kirche erst noch schaffen.

Isabelle: Vielleicht reagiert die Kirche zu langsam auf die Veränderungen. Oder sie hat Angst, zu verlieren, was ihr noch geblieben ist, anstatt mutig Neues zu wagen. Ich glaube nicht, dass es heute weniger spirituell interessierte Menschen gibt als in früheren Zeiten. 

Die Kirche darf sich nie selbst genügen. Sie soll in die Welt hinaus wirken, sie zum Guten verändern.
Felix Reich, Redaktionsleiter Zürich

Was stimmt euch zuversichtlich?

Felix: Ich versuche, an das zu denken, was weiterhin da ist. Noch immer sind im Kanton Zürich 24 Prozent der Bevölkerung Mitglied der reformierten Kirche. Und das freiwillig. Niemand muss heute einen sozialen Abstieg befürchten, wenn er aus der Kirche austritt. Niemand wird stigmatisiert. Dennoch sind noch so viele Menschen dabei und zahlen die Kirchensteuer. Und viele Menschen sind froh, dass es die Kirche gibt, obwohl sie nicht Mitglied sind. An manchen Orten funktioniert Kirche auch noch sehr gut. Nur auf den Mitgliederschwund zu starren, ist deprimierend.

Constanze: Ich versuche auch, auf die Ressourcen zu schauen, nicht auf das, was nicht da ist.

Wie würden eure Werbebotschaften für die Kirche lauten?

Felix: Das Evangelium hält den Glauben wach, dass eine andere, bessere Welt möglich ist. Wenn sämtliche Menschen, die daran glauben, an dieser Vision arbeiten, ist schon viel erreicht. Dabei darf der Mensch auf Gottes Zuspruch vertrauen. Die Kirche kann eine Keimzelle sein für diesen Gemeinsinn. Die Kirche darf sich nie selbst genügen. Sie muss in die Welt hinaus wirken, sie zum Guten verändern wollen.

Constanze: Kürzlich fragte mich ein Schüler, was «Erbarmen» sei. Erbarmen, Mitgefühl, finde ich extrem wichtig. Die Kirche lebt Mitgefühl. Die Menschen, die Tiere, die Natur sind zerbrechlich, das müssen wir schützen. Mitgefühl gibt uns Kraft zum Leben, und die Kirche ist ein Wegweiser zum Mitgefühl.

Isabelle: Das Christentum hat eine Geschichte, in der nicht nur Gutes geschah. Ich finde es wichtig, dass die Kirche weitermacht, um ihre Verantwortung wahrzunehmen. Denn sie hat unsere Kultur sowie unsere Werte stark geprägt.