Glaube 26. Juni 2024, von Christian Kaiser

Das Licht der Welt fällt bunt in die Kirche

Kirche und Tourismus

Zürich verdankt seinen touristischen Stellenwert auch den beiden Altstadtkirchen: Die Kirchenfenster der Künstler Chagall, Polke und Giacometti ziehen Hunderttausende an.

Gestern sind sie in Zürich Kloten gelandet, heute Abend geht es weiter nach Grindelwald. Vorhin blickten sie in die Schaufenster an der Bahnhofstrasse, jetzt steht Fensterschau im Fraumünster an. 

Mutter Kerem, ihre Tochter Tamar und der Sohn Yoal aus Jerusalem sind begeistert. «Marc Chagall war ein Jude, und er erzählt in seinen Fenstern biblische Geschichten, die wir kennen.» Die Geschichten von Elia oder dem Psalmensänger David etwa. Am meisten angetan hat es Kerem die blaue Jakobsleiter.

Das Einzige, was in unserer Macht liegt, ist, für die Kunst zu arbeiten. Das Übrige erledigt Gott.
Marc Chagall (1887–1985), Schöpfer der Kirchenfenster im Zürcher Fraumünster

«Ja, auch für mich ist das Jakobsfenster das schönste», pflichtet ihr Yoal strahlend bei. Die drei haben eigens wegen Chagall in Zürich Station gemacht: «Wir sind zwar keine praktizierenden Gläubigen, zu ihm hingegen haben wir eine enge Beziehung», sagt Kerem.

Der russisch-französische Malerpoet hat auch in ihrer Heimatstadt künstlerische Spuren hinterlassen. So im israelischen Parlament, der Knesset. Im Chagall-Saal, der für feierliche Zeremonien genutzt wird, hängen drei riesige Wandteppiche, der Boden ist mit zwölf Mosaiken verziert. Weltberühmt sind auch die zwölf Fenster in der Synagoge des Hadassah-Krankenhauses in Jerusalem von 1962, welche die zwölf Söhne Jakobs darstellen. 

Der Engel im Kopf

Laut der Bibel bekam Jakob von Gott den Namen Israel verliehen, er ist der Stammvater der zwölf israelitischen Stämme. Chagall soll gesagt haben, er habe bei der Entstehung der Fenster in Jerusalem das Gefühl gehabt, Millionen von Juden vergangener Generationen hätten ihm bei seiner Arbeit über die Schulter geschaut. 1967 waren die Fenster in Jerusalem bereits weltweit bekannt, als der damalige Fraumünster-Pfarrer Peter Vogelsanger beim 79-jährigen Chagall anfragte, ob er auch für eine Zürcher Kirche Fenster gestalten wolle. 

Unser Top-Seller, die Karte mit allen fünf Chorfenstern, ist leider ausverkauft.
Verkäuferin im Fraumünster

Beim Ergebnis handle es sich um ein Gesamtkunstwerk von grösster Farb- und Ausdruckskraft: «eine malerische Sinfonie aus biblischen Bildern», ist in der Broschüre «Willkommen im Fraumünster» zu lesen. Das zwölfseitige Faltblatt mit den wichtigsten Infos wird von der reformierten Kirche in zehn Sprachen aufgelegt, so auch in Portugiesisch, Koreanisch, Japanisch, Chinesisch. Der Infoteil über die Chagall-Fenster beginnt mit einem Zitat Picassos zu Chagall: «Irgendwo in seinem Kopf muss er einen Engel haben.»

Nach einer Weile des Verweilens vor Chagalls Lichtspielen im Chorraum entscheiden sich viele der Touristen für das Windowshopping im Wortsinn: Am Kiosk neben dem Ausgang zählen die Fenster in Form von Buchzeichen oder Kühlschrankmagneten zu den Verkaufsschlagern. «Unser Top-Seller, die Karte mit allen fünf Chorfenstern, ist leider ausverkauft», sagt die freundliche Verkäuferin hinter der Plexiglasscheibe. 

Mehr Besuch aus den USA

2023 verzeichnete man an der Kasse 152'660 Eintritte ins Fraumünster, ein Plus von 30 Prozent gegenüber 2022. Nicht mitgezählt sind die Besuchenden von Gottesdiensten und Konzerten. Im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie kommen derzeit weniger Reisende aus Asien, dafür mehr aus den USA, bei zunehmender Tendenz.

Die fünf Chagall-Fenster im Fraumünster sind ein absoluter Glücksfall für Zürich. Eigentlich sind es ja sechs: Denn 1978 steuerte Chagall als 90-Jähriger auch noch eine Fensterrosette mit den Szenen aus der Genesis bei. 

Hauptsächlich dank der farbenfrohen Glasfenster des jüdischen Jahrhundertkünstlers belegt die Altstadtkirche bei der internationalen Reiseplattform Tripadvisor Platz 19 der Top-Sehenswürdigkeiten in Zürich, noch vor dem Opernhaus. Das Grossmünster steht dort auf Platz 11 und schlägt im Ranking knapp das Fifa-Museum.

Das Wahrzeichen besteigen

Bei Zürich Tourismus belegen die beiden grossen Altstadtkirchen sogar Platz eins und zwei «der absoluten Highlights der Stadt». Gross- und Fraumünster seien «ein Muss bei jedem Zürich-Besuch», heisst es hier. 

Das Wahrzeichen von Zürich, das Grossmünster mit seinen Türmen, besuchten im letzten Jahr gegen 642'000 Personen, an den Spitzentagen sind es bis zu 4000. Die Hauptattraktion ist der besteigbare Karlsturm mit grandiosem Rundblick von oben. Auch die Kirchenfenster sind überaus sehenswert.

Umfangreiches Kultur- und Führungsangebot

Zu den sehenswerten Zürcher Altstadtkirchen gehören neben dem Grossmünster und dem Fraumünster auch St. Peter mit dem grössten Zifferblatt Europas sowie die Prediger- und die Wasserkirche. Insgesamt werden sie von rund einer Million Touristen besucht. Der Zürcher Kirchenkreis 1 bespielt die Kirchenräume auch mit einem umfangreichen kulturellen Angebot an Konzerten, Ausstellungen und Führungen.

Ariane Dross schwärmt: «Es ist schon ein erhabenes Gefühl, am Morgen nach dem Aufschliessen des Portals allein im Kirchenschiff zu stehen und zu sehen, wie das Licht durch die Giacomettifenster in den Kirchenraum fällt.» Seit einem Jahr arbeitet sie als «Bereichsleiterin Besichtigung» für die Altstadtkirchen der reformierten Kirche Zürichs. Davor arbeitete sie jahrelang in der Hotellerie. Sie spricht konsequent von «Gästen», wenn sie die Kirchenbesuchenden meint. «Sie sollen sich wohlfühlen», sagt sie, «wir wollen ihnen offene Kirchen zur Verfügung stellen, ein schönes Erlebnis ermöglichen». 

Gastfreundschaft bedeute auch, auf die unterschiedlichen Motive eines Kirchenbesuchs Rücksicht zu nehmen. Nicht immer stünden das Abklappern von Sehenswürdigkeiten oder die persönliche Weiterbildung im Vordergrund. «Manche wollen einfach nur Ruhe finden, vor dem Regen flüchten, eine Kerze anzünden», sagt Dross. Aber natürlich sei es eine grosse Herausforderung, die divergierenden Interessen in der Balance zu halten, «sodass es für alle stimmt»; Diakonie, Seelsorge, Kultur, Gottesdienst auf der einen und steigende Touristenzahlen auf der anderen Seite.

Die Zürcher Altstadtkirchen bieten ein umfangreiches Programm an Führungen an. (Verlinken: fuehrungen.reformiert-zuerich.ch) Von «Chagall erleben» über die Hexenverfolgung bis hin zu einer immer beliebteren meditativen Nachtführung im Grossmünster. Das Angebot wird rege genutzt: Allein im letzten Jahr hat das Altstadtkirchenteam über 350 öffentliche Führungen und Führungen für private Gruppen organisiert und durchgeführt. «Am beliebtesten sind szenische Führungen wie zum Beispiel «Mutter Leuin» sowie thematische Führungen, etwa jene rund um die Stadtheiligen Felix und Regula. », sagt Ariane Dross. Ebenfalls immer ausgebucht sind die Besteigungen der sonst nicht zugänglichen Glockentürme.

Alle Infos (Deutsch und Englisch): fuehrungen.reformiert-zuerich.ch

Seit 2009 zieren sieben Fenster aus Achatstein im Dünnschliff das Kirchenschiff des Grossmünsters. Fünf Glasfenster zeigen biblische Motive, etwa ein Davids- und ein Menschensohn-Fenster. Erschaffen hat sie der deutsche Künstler Sigmar Polke (1941–2010). Sie nehmen Bezug auf die in Rot gehaltenen «Weihnachtsfenster» von Augusto Giacometti von 1933 im Chorraum.

Zum Glück gibt es die Kunst

Auch das Fraumünster verfügt im Querschiff über ein Fenster des Schweizer «Meisters der Farben»: Giacomettis wunderbares Paradiesfenster geht neben Chagall jedoch etwas unter. Auch Mitch aus New York ist extra wegen der Chagall-Fenster gekommen. «Sie sind grossartig», sagt er sichtlich bewegt, «ich liebe diese Kirche.»

Er sei ein grosser Chagall-Fan, berichtet er und zieht den rechten Ärmel seiner Jacke hoch, um seinen Unterarm zu zeigen. «Ich habe seine Violine spielende Ziege hier als Tattoo», lacht er. Das Motiv ist einem Ölgemälde Chagalls von 1950 entlehnt: «La Mariée». Im Film «Notting Hill» diskutieren Hugh Grant und Julia Roberts über das Bild, und die Hauptdarstellerin kommt zum Schluss: «Glück ist kein Glück ohne eine Violine spielende Ziege.»

In Anlehnung daran könnte man fragen: Was wäre das Glück ohne die glückliche Verbindung von Kirche und Kunst?