Auf der Suche nach Gott im Ferienparadies

Kirche und Tourismus

Die Christusträger-Bruderschaft beherbergt am Thunersee seit Jahrzehnten Gäste. Innere Einkehr und der Blick auf eine mystische Landschaft kommen hier zusammen.

Ein paar Minuten Stille. Ein paar Bibelverse. Ein Gebet. Ein Segen. In der Kapelle im Dachstock des alten Herrschaftsgebäudes auf Gut Ralligen hat sich ein gutes Dutzend Gäste eingefunden, darunter zwei Kinder, um jetzt am Mittagsgebet der Christusträger-Bruderschaft teilzunehmen. 

Diese ist eine evangelische Kommunität mit Hauptsitz im Kloster Triefenstein im deutschen Unterfranken. Seit nahezu 50 Jahren hat sie auf Gut Ralligen am Thunersee auch eine Niederlassung in der Schweiz. Hier wohnen aktuell sieben Brüder. Das Rebgut Ralligen gehörte einst dem Augustinerkloster Interlaken, das im Zuge der Reformation aufgehoben wurde.

Wir wollen hier Raum für Begegnungen mit Gott schaffen, und diesen Raum prägen wir durch unser Leben mit.
Bruder Thomas Dürr, Verantwortlicher des Gästehauses auf Gut Ralligen

«Wir hatten immer wieder Anfragen von Menschen, die unseren Alltag mitleben wollten», sagt Bruder Thomas Dürr, der Zuständige für die Gästebetreuung in Ralligen. So hätten sich die Christusträger entschieden, ihre Häuser auch für Gäste zu öffnen. 

Seitdem ist dies ihre Hauptaufgabe und auch Herzensangelegenheit. Sie empfangen Einzelgäste und Gruppen, laden zu Seminaren und Hausangeboten ein. Die Gäste bleiben wenige Tage bis mehrere Monate. Der Platz für Gruppen ist bereits auf zwei Jahre ausgebucht.

Gemeinsam durch den Tag

Ein eher kühler Tag Ende Mai. Gerade weilt eine Gruppe von Familien aus Süddeutschland in Ralligen. Nach dem Mittagsgebet treffen sich die Gäste und die gesamte Hausgemeinschaft zum Mittagessen. 

Neben den Brüdern arbeiten sechs weitere Personen im Haus mit. Nach der besinnlichen Stimmung während des Gebets in der Kapelle ist der Lärm im Speisesaal ein starker Kontrast. Über die Hälfte der schätzungsweise 50 Gäste sind Kinder.

Wir haben beschlossen, die Gästearbeit zu reduzieren, um mehr gemeinsames Leben zu haben.
Bruder Thomas Dürr, Verantwortlicher des Gästehauses auf Gut Ralligen

«Vor 30 Jahren hatten wir zu gewissen Zeiten 90 Gäste im Haus», erzählt Bruder Peter Pyrdok, dessen Aufgabe die Pflege des ausgedehnten Parks des Guts Ralligen ist. Früher sei die gästefreie Zeit jeweils nur kurz gewesen. Das sei irgendwann zu viel geworden, nicht zuletzt, weil einige der Brüder in ein höheres Alter kamen.

«Wir haben beschlossen, die Gästearbeit zu reduzieren, um mehr gemeinsames Leben zu haben», sagt Bruder Thomas, der vor 33 Jahren in die Bruderschaft eingetreten ist. Nun haben die Brüder mehr Zeit für sich. Statt alle drei Mahlzeiten des Tages nehmen sie nur noch das Mittagessen mit den Gästen ein. So laut wie in dieser Woche geht es dabei nicht immer zu: Es gibt auch sogenannte Schweigewochen.

Die Gäste packen mit an

Nachdem der letzte Rest Vanillecreme aufgegessen ist und Bruder Thomas Vorschläge fürs Nachmittagsprogramm gemacht hat, greifen viele helfende Hände nach dem gebrauchten Geschirr und Besteck auf den Tischen. Zu einem Aufenthalt bei den Christusträgern gehört nämlich auch, dass die Gäste mit anpacken, zum Beispiel beim Tischdecken und Abwaschen, aber auch beim Tagesprogramm.

Auch sonst herrscht hier kein Luxus. «Es gibt bei uns keinen Alkohol, keine Auswahl beim Essen, die wenigsten Zimmer haben ein eigenes Bad, WLAN gibt es nur im Hauptgebäude, und die Bettwäsche nehmen die Leute selbst mit», erklärt Bruder Thomas.

Zeit fürs Wesentliche

Im späteren Gespräch mit Gästen in der Cafeteria zeigt sich, dass der fehlende Komfort keinesfalls stört. Fallen die Ablenkungen und Bürden des normalen Alltags weg, wird Zeit frei für das Wesentliche: Zeit für sich, für Gebet und Stille, aber auch für Gemeinschaft. Genau das, was die Familiengruppe suchte. 

Während die meisten Familien das halbwegs gute Wetter des Nachmittags für Ausflüge in die Umgebung nutzen, haben sich Jolande Berberich und ihr Mann entschieden, mit ihren zwei kleinen Söhnen auf dem Gelände zu bleiben. Da sei es schon schön genug, meint die Frau. Sie schätzt es, dass sie ihren Alltag nicht selbst organisieren muss. 

«Ich kann zum Gebet kommen, ohne etwas dafür tun zu müssen», sagt sie. Es sei wohltuend, sich dem Rhythmus einer Lebensgemeinschaft hinzugeben. Zudem gäben einem der See, die Berge ringsherum und der gepflegte Park ein erhabenes Gefühl. «Was mich mit Gott verbindet, ist vor allem die Natur.»

Verbunden im Glauben

Die schöne Landschaft stärke sein spirituelles Erleben, sagt Helmut Lindel. Deswegen sei er aber nicht gekommen. Für ihn steht ein unkomplizierter Ort für die Familienzeit an erster Stelle. Zugleich ist es ihm wichtig, gerade diese Unterkunft ausgewählt zu haben. «Durch die gemeinsame Glaubensbasis haben wir eine andere, schnellere Verbindung mit den anderen Menschen an diesem Ort», sagt er.

In Ralligen kehren auch immer wieder Pilger und Pilgerinnen ein. Bei ihrer Betreuung helfen ebenfalls Gäste mit. So etwa Jasmin Schusser. Seit Jahren kommt sie mit ihrer Familie wochenweise nach Ralligen. Sie geniesst die Begegnungen mit den Pilgersleuten. «Da ich selbst hier zu Gast bin, kann ich mir Zeit nehmen fürs Gespräch.» Die Mitarbeit empfindet sie als bereichernd. «Komme ich hier an, bin ich platt und ausgebrannt. Gehe ich, bin ich ausgefüllt», sagt sie.

Thomas’ grösste Freude

Dass die Landschaft und die sorgfältig renovierten Gebäude des Guts Ralligen dem Aufenthalt der Gäste eine besondere Qualität verleihen, bestätigt Bruder Thomas. «Vieles, was sich im Alltag zwischen Gott und die Menschen schiebt, bleibt hier aussen vor», erklärt er. «Wir geben Gott hier Raum, und diesen Raum prägen wir durch unser Leben mit.» Wenn die Gäste hier Gott begegnen würden, sei dies seine grösste Freude.