Ein geschützter Raum mit offenen Türen

Inklusion

Fabian Emch arbeitet im Buechehof, Maya Brunner wohnt auch in dieser sozialtherapeutischen Institution. «reformiert.» hat beide in ihrem Alltag begleitet.

Fabian Emch ist ein Experte. Geht es um Kirchenglocken, kann er aus dem Stegreif ein ganzes Buch erzählen, mit Zahlen, Details, Klangfarben und Gewichten, Kirchen- und Ortsnamen und dazugehörigen Geschichten. Etwa jene von einem Wettbewerb, bei dem eine katholische Kirchgemeinde nicht auf sich sitzen lassen konnte, dass es im benachbarten Turm der reformierten Kirche grössere Glocken hatte.

Der 26-Jährige muss selbst lachen, als die Fakten an einem frühen Dienstagnachmittag in der grossen Martinskirche in Olten nur so aus ihm heraussprudeln. Es dauert noch eine knappe Stunde, bis Fabian Emchs Weiterbildung in einer Privatschule beginnt. Er hat eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) und wohnt im Haus seiner Mutter. Mit ihr zusammen, aber praktisch selbstständig. Emch arbeitet unterstützt von der sozialtherapeutischen Einrichtung Buechehof im solothurnischen Lostorf bei Olten.

Die fehlende Rettungsgasse

Losgefahren ist Emch nach dem Mittag vom Buechehof mit dem Bus. Der ehemalige Bauernhof liegt idyllisch umgeben von Feldern und Wäl­dern am Jurafuss. Eine bunte kleine Gruppe von Menschen erwartet einen hier. «Weisst du, wie man ruft, wenn sich der Bus verspätet?», fragt einer. «Chumm, busbusbus!» Alle lachen. Es sind Klientinnen und Klienten – so werden die zu Begleitenden am Buechehof genannt –, die selbstständig zu den Arbeitsplätzen der Einrichtung fahren: zum Kiosk in Lostorf, wo sie Produkte verkaufen, zur Holzwerkstatt in Stüsslingen. Oder eben nach Olten in die Weiterbildung.

Ein Lieblingsgeläute des «Starrkircher Glockenfans»

Fabian Emch unterhält einen einen eigenen YouTube-Kanal mit dem Namen «Starrkircher Glockenfan». Dort lädt er selbst aufgenommene Glockengeläute hoch. Zum Beispiel das Geläut der reformierten Oltner Friedenskirche – eines seiner Lieblingsgeläute.

Youtube-Kanal von Fabian Emch

Dem jungen Mann ist es wichtig, früh genug bei der Haltestelle zu sein. «Ich will den Unterricht nicht verpassen. Das wäre blöd.» Er grüsst und verabschiedet Ein- und Aussteigende. Er zählt minutiös auf, an welchem Wochentag er wo arbeitet. Während der Fahrt durch seinen Wohnort Starrkirch-Wil erzählt er von seiner Taufkirche, von verschiedenen Glockengeläuten. Und immer wieder dreht er plötzlich den Kopf, wenn er etwas Spezielles sieht oder hört. Als in Olten ein Feuerwehrauto mit Sirene kurz nicht durchkommt, ist er fasziniert, aufgeregt, fast empört. «Die machen keine Rettungsgasse!»

In die Martinskirche von Olten geht Fa­bian Emch gern, wenn er Zeit hat. Vor allem wenn es regnet, wie heute. «Die Kirche fasziniert mich. Sie hat von allen im Kanton Solothurn am meisten Sitzplätze und ist eine der schönsten, weil sie so gross ist. Eine neuromanische Basilika. Frisch saniert.» 

Nicht fromm und so normal wie möglich

Emch meditiert hier manchmal. Sitzt einfach da, singt auch mal halblaut ein Lied für sich. «Gott und Jesus sind wichtige Bezugspersonen für mich.» Er ist römisch-katholisch getauft. «Aber ich möchte nicht als fromm erscheinen.»

Stimmt es für ihn, wenn er als Mensch mit Behinderung bezeichnet wird? «Ich kann nicht sagen, welche Bezeichnung mir am besten passt. Ich versuche, so normal wie möglich zu sein. Aber wer ist schon normal?» Die Gesellschaft werde in eine Richtung gedrückt, sagt Emch. Dann denke er manchmal: «Halt! So Normen braucht es doch gar nicht. Sie werden den Menschen nicht gerecht.» Das bedeute aber nicht, dass man nicht sein Bestes geben solle, etwa beim Anschreiben der Preise im Kiosk oder im Hofladen. «Aber du musst und kannst gar nicht perfekt sein.»

Ich versuche, so normal wie möglich zu sein. Aber wer ist das schon? Normen braucht es gar nicht. Sie werden den Menschen nicht gerecht.
Fabian Emch, 26

In den zwei Einzellektionen in Deutsch und Mathematik scheint es Fabian Emch jeweils nicht recht zu sein, wenn er etwas nicht weiss. Doch beim Analysieren von unterschiedlichen Diagrammen ist er lange sehr konzentriert bei der Sache. Über die Frühlingsferien hat er auch selbst ein Dossier am Computer zusammengestellt mit Diagrammen zu Kirchenglockenthemen. Im Deutsch zeigt er grammatikalisch sehr weit gehendes Wissen.

Selbstständiger als viele sogenannt «Normale»

In einem späteren Gespräch bestätigt Fabians Vater Markus Emch die Eindrücke, die nach dem Nachmittag mit dem 26-Jährigen zurückbleiben: Er sei sehr wissbegierig. Im Umgang mit Zahlen und im sprachlichen Ausdruck habe er «normales» Bildungsniveau, im Schreiben sei er sogar klar darüber. Und: «Er ist heute selbstständiger als viele sogenannt normale Leute. Fabian kocht, wäscht, sorgt für Ordnung», sagt Markus Emch. In die Gesellschaft integriert sei er besser als mancher Eigenbrötler.

Aber Fabian habe teils ganz andere Wertvorstellungen, als unsere Gesellschaft es vorgebe. Konkurrenz kenne er nicht, wolle niemanden von seinem Tun überzeugen. «Er hat keine Chance, im Arbeitsmarkt Fuss zu fassen. Wir haben es schon x-mal probiert», sagt der Vater. Ein Baum, der sich vor dem Fens­ter im Wind bewege, interessiere ihn zum Beispiel viel mehr, als einen Auf­trag in der vorgegebenen Zeit zu erfüllen.

Fabian Emch weiss das selbst: «Ich habe Mühe, Wahrnehmungen zu filtern. So bekomme ich Dinge mit, die mich nichts angehen.» Es sei einfach ein bisschen schwierig mit dem Autismus.

Sehr gern arbeitet Fabian Emch in der Holzwerkstatt des Buechehofs. Er baut dort zurzeit einen kleinen Glockenstuhl, ein Gestell für die Glocke, die er sich 2018 von der Giesserei Allanconi in Italien für sich selbst extra giessen liess. Und es sei ein kollegiales Umfeld. «Ich fühle mich sehr herzlich aufgenommen am Buechehof», sagt der junge Mann, der auch viel Freude hat an der Hofkatze Moritz. Zu Hause hat er auch eine Katze. «Mit ihr schmüsele» gehöre zu den Dingen, die er am liebsten mache.

Kälbchen und Schweinchen

Die Freude an Tieren teilt Fabian Emch mit Maya Brunner (40). Sie liebt insbesondere die jungen: «Die kleinen Kätzchen, Kälbchen und Schweinchen, die quietschen», sagt sie während des WC-Putzens. Sie hat eine Lernschwäche und Epilepsie, lebt in einer Wohngruppe am Buechehof und arbeitet an diesem Mittwochvormittag in der Hauswirtschaft. Maya Brunner beginnt im WC des Bistros. Das werde auch von den Leuten im Hofladen nebenan benutzt, sagt sie und wischt das Lavabo sauber. Sie ist fröhlich und gemütlich bei der Sache und erklärt: «Das machen wir gründlich.»

Die Arbeit gefällt ihr, das Bad zu putzen ganz speziell. «Ich bin einfach zufrieden, wenn es sauber ist», sagt sie strahlend. Am allerliebsten mangelt sie aber die Wäsche. Darin sei sie einfach Profi. Die Wäsche mit den Rollen glätten könne nicht jeder. «Denen muss ich dann helfen», sagt Brunner. Sie habe zwei Jahre Hauswirtschaft gelernt im Theresiahaus in Solothurn. Da sei alles dabei, Kochen, Putzen, Nähen.

Politisieren am Bügelbrett

Vom Parterre fährt sie mit dem Lift ein Stockwerk höher. Der Hauswirtschaftsraum ist das Zentrum für die Mitarbeitenden. Hier teilt Betreuer Angelo Baldi die Arbeiten zu, begleitet, organisiert, hilft mit. Maya Brunner macht sich ans Bügeln der Wäsche aus den Wohngruppen. Das geht nicht sehr zackig, aber stetig. Ausser, wenn sie zu erzählen beginnt: Dann macht sie eine Pause und widmet sich ihren Gedanken und der Suche nach Worten.

«Meistens wähle ich und stimme ab. Manchmal frage ich meine Eltern, sie helfen mir, weil sie so Sachen besser wissen als ich», antwortet sie auf die Frage nach ihrem Interesse für die Politik. Informationen hole sie über Fernsehen und Radio. Und dann beginnt sie sich aufzuregen, als sie auf die Ukraine zu sprechen kommt. Da sei nur noch Krieg. Und die Russen hätten so einen blöden Präsidenten. «Alle müssen flüchten, sie verlieren alles, was sie hatten.

Meistens wähle ich und stimme ab. Manchmal frage ich meine Eltern, sie helfen mir, weil sie so Sachen besser wissen als ich.
Maya Brunner, 40

Beim Wäschezusammenfalten entdeckt sie im Wäschehaufen einen pinken Lappen. «Ein Wülser-Lappen, definitiv», sagt Brunner. Das sei ein Sanitärgeschäft im Dorf, für das der Buechehof auch Wäsche mache. Angelo Baldi gibt ihr die Wäscheliste, die Maya Brunner genauestens mit den vorhandenen Stücken vergleicht. «Wie schreibt man ein Plus?», fragt sie.

Auf die Selbstständigkeit der Klientinnen und Klienten angesprochen, sagt der Arbeitsagoge Baldi: «Da kommt es immer darauf an, wo ihre Grenzen sind.» Wer welche Fähigkeiten habe – motorisch, kognitiv –, sei immer individuell. «Man muss auch Dinge ausprobieren.» Auf die Bedürfnisse einzugehen, sei wichtig. Überhaupt sei am Buechehof Inklusion zentral. «Es haben alle ein Mitbestimmungsrecht. Im Garten haben die Klientinnen und Klienten beispielsweise auf eigene Initiative ein Kräutersalz kreiert.» Arbeitsplätze wie Kiosk oder Holzwerkstatt seien bewusst ausserhalb eingerichtet, um die selbstständige Mobilität zu fördern.

Nicht zur Insel werden

Dass der Buechehof keine Insel sein soll, nennt auch Sonya Egger als wichtiges Ziel, als sie in der Hauswirtschaft hereinschaut. Sie leitet den Bereich Arbeit und Integration und ist Vorsitzende der Geschäftsleitung. Und nicht nur bei der Arbeit sei das Teil des Konzepts, sondern auch bei anderen Handlungen des Alltags. «Die Klientinnen und Klienten gehen zum Beispiel zum Coiffeur und zur Fusspflege ins Dorf, das machen wir extra nicht intern.»

Egger weist auch auf die Wohnschule hin. Diese kann absolvieren, wer will. «Zurzeit sind es zwei, die jede Woche ein lebensnahes praktisches Thema intensiver üben: den Umgang mit Geld, Termine abmachen, waschen, Beziehung, Sexualität.» Ziel sei, dass ein selbstständiges Wohnen in einer begleiteten Wohngemeinschaft oder auch allein möglich werde. «Kürzlich hat es eine Frau geschafft, die nicht lesen und schreiben kann und jetzt mit Wohnbegleitung in einem Mehrfamilienhaus im Dorf wohnt.»

Seit 35 Jahren ein Lebens- und Arbeitsort

Seit 35 Jahren ein Lebens- und Arbeitsort

Der Verein Buechehof wurde bereits 1975 gegründet, sein eigentlicher Zweck aber erst 1987 umgesetzt: Damals ging der mit einem Wohnheim erweiterte ehemalige Schneeberger-Hof mit Bauernhof und Stall in Lostorf SO in Betrieb. Heute ist der Buechehof als sozialtherapeutische Einrichtung auf Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung aus­gerichtet. Er bietet derzeit 34 Wohnplätze mit integrierter Arbeit an, verteilt auf vier Wohngruppen, eine Aussenwohngruppe und eine Wohnschulgruppe. Zusätzlich stehen 16 Arbeitsplätze für Externe zur Verfügung. Rund 100 Mitarbeitende sind angestellt.

Hauptziel ist ein möglichst selbstständiges, selbstbestimmtes und eigenverantwortliches Leben für die Klientinnen und Klienten. Die Begleitung, Arbeit, das soziale und kulturelle Leben und die therapeutische Unterstützung erfolgen auf der Grundlage der Anthroposophie Rudolf Steiners. Arbeit wird in den Bereichen Landwirtschaft, Gärtnerei, Bereich Innen, Verpflegung und in drei Werkstätten angeboten.

Gleichzeitig betont Egger: «Der Schritt in die Selbstständigkeit ist immer mit sehr viel Aufwand verbunden.» Insbesondere bei den externen Arbeitsplätzen brauche es Anpassungen und stete Begleitung. Denn bei internen würden auch viele soziale Aspekte aufgefangen und miteinbezogen. Angesprochen auf die Vision einer Schweiz ohne separate Institutionen für Menschen mit Behinderung – wie etwa in Neuseeland –, meint Sonya Egger deshalb: «Ehrlich gesagt: Das kann ich mir nicht vorstellen.»

Allein schon eine Wohnung für Menschen mit Behinderung überhaupt zu finden, sei sehr schwierig. Auch die Begleitung rund um die Uhr müsste mit Nachtpiketts organisiert sein. Und: «Ein geschützter Rahmen hat durchaus auch seine Berechtigung. Ausserdem ist die gesamte Gemeinschaft mit den grösseren sozialen Anlässen am Buechehof schon auch sehr schön», findet die Bereichsleiterin.

Zwei wichtige Forderungen an die Politik

Mit Nachdruck hält Sonya Egger aber fest: «Politisch müsste unbedingt etwas geschehen.» Sie nennt zwei wichtige Forderungen. Erstens müssten alle Arbeitgeber einen Anteil an Stellen für Menschen mit Beeinträchtigung schaffen – auch da aber mit gewährleisteter Begleitung. Zweitens habe jeder Mensch mit Behinderung Anspruch auf eine Ausbildung. Von der Invalidenrente erhielten sie nur bis maximal zwei Jahre Unterstützung für eine Ausbildung – und selbst das nicht ohne grösseren Aufwand.

Inklusionsinitiative

Im September 2022 soll eine Inklusionsinitiative lanciert werden. Die Initianten möchten «einen tiefgreifenden Wandel im Behindertenwesen anstreben» mit endlich echter Selbstbestimmung, wie der Verein Tatkraft mitteilt, der sich für Menschen mit Behinderung (MmB) einsetzt. Ziel ist, dass MmB personelle und technische Ressourcen erhalten, um sich mittels Assistenz vollumfänglich und selbstbestimmt in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur einbringen und ihr Potenzial entfalten zu können.

Maya Brunner hat eine Ausbildung, und sie hat auch bis vor Kurzem selbstständig gewohnt, zehn Jahre lang mit Begleitung. Doch aus gesundheitlichen und psychischen Gründen sei es nicht mehr gegangen, sagt Sonya Egger. Brunner konnte den Arbeitsweg nicht mehr absolvieren und wollte keine Stufen überwinden. «Eigentlich könnte sie gut etwa in einer Wäscherei arbeiten», findet Egger. «Aber sie blockiert sich selber.»

Sich definitiv akzeptieren

Während der nächsten Arbeit, des Einpackens von Briefen für eine Stiftung, sagt Brunner, dass sie gern wieder selbstständig woanders wohnen würde. «Aber das ist schwierig, wegen meiner Epilepsie. Ich muss mich akzeptieren, wie ich bin, auch als Behinderte. Definitiv.»

Doch klar ist für Maya Brunner zugleich, dass sie im Moment am Buechehof bleibt. «Ich will gar nicht weg. Ich habe gute Kollegen hier.» Und als die Nachricht die Runde macht, dass es junge Häschen gegeben habe, ruft sie: «Ou, da freu ich mich aber!»