Schwerpunkt 24. Mai 2022, von Sandra Hohendahl-Tesch

Viele Baustellen auf dem Weg zur Teilhabe

Inklusion

Niemand bleibt aussen vor, jeder Mensch ist Teil der Gesellschaft: Was gut klingt, ist noch längst nicht Realität. Auch nicht in den Landeskirchen, obwohl sich da einiges tut.

Jasmin geht in die 6. Klasse in einem Stadtzürcher Schulhaus. Auf den ersten Blick sieht man ihr nicht an, dass sie anders ist als ihre Kameradinnen und Kameraden. Aber die 13-Jährige ist kognitiv beeinträchtigt. Sie lebt mit dem Tourette-Syndrom. Manchmal gibt sie spontane Laute von sich. Zusätzlich zur Lehrperson kümmert sich auch an diesem Morgen eine Heilpädagogin um Jasmin. Sie hilft ihr, bei der Sache zu bleiben, wiederholt, was gerade erklärt wurde.

Ein Aktionsplan fehlt

Jedes Kind mit einer Behinderung oder Lernstörung hat Anspruch auf Unterricht in der Volksschule. So sieht es die UNO-Behindertenrechtskonvention vor. Die Schweiz hat das Abkommen 2014 als 144. von 193 Mitgliedsstaaten ratifiziert. 1,8 Millionen Menschen leben hierzulande mit einer Behinderung. Sie sollen in allen Bereichen am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilhaben können, sei es in Bildung, Arbeit, Familie oder Freizeit.

Schlechtes Zeugnis für die Schweiz

Die Schweiz verletzt in vielerlei Hinsicht die Rechte von Menschen mit Behinderung. Zu diesem Schluss kam Ende März ein für Inklusion zuständiger UNO-Ausschuss. Die Inklusion werde auf allen Staatsebenen und in der Gesellschaft noch zu wenig gelebt. So fokussiere die Schweiz etwa noch zu stark auf institutionelle Wohnformen und biete nur unzureichende Unterstützungsleistungen für selbstständiges Wohnen an. Im Bildungsbereich fehle es an einer politischen Strategie für den Aufbau eines inklusiven Schulsystems. Knapp die Hälfte der Grundschülerinnen und -schüler mit verstärktem Unterstützungsbedarf werde separativ geschult. Auch im Arbeitsmarkt herrsche noch immer eine Segregation behinderter Menschen im geschützten Arbeitsmarkt vor. Es brauche Massnahmen, um die Beschäftigung auf dem offenen Arbeitsmarkt zu erhöhen. Darüber hinaus seien Menschen mit Behinderung zu wenig vor Diskriminierung geschützt, heisst es im Bericht.

Von diesem Ziel ist die Schweiz allerdings noch weit entfernt. Matthias Kuert von Inclusion Handicap sieht das grösste Problem in einem fehlenden landesweiten Aktionsplan. Nach der vernichtenden Kritik der UNO fordert der Verband vom Bundesrat mittels einer Petition die sofortige Unterzeichnung eines Zusatzprotokolls, das Betroffenen zu mehr Rechten verhelfen soll.

Wenn eine Rollstuhlfahrerin zum Beispiel nicht ins Kino kommt und damit bei sämtlichen Gerichten abgeblitzt ist, könnte sie vor einem UNO-Ausschuss klagen, der dann eine Empfehlung abgibt. Diese Möglichkeit sei «extrem wichtig», sagt Kuert. Die Behindertenrechtskonvention definiert Teilhabe als Menschenrecht. Matthias Kuert sieht auch die Kirche in der Pflicht. Mit ihren niederschwelligen Angeboten könne sie eine wichtige Rolle spielen, etwa Räume schaffen, in denen gleichberechtigte Teilhabe möglich sei.

Inklusion gehört zur DNA der Kirche.
Therese Vögeli, Inklusionsbeauftragte Reformierte Kirche Kanton Zürich

Mit der Forderung rennt Kuert offene Türen ein. «Inklusion gehört zur DNA der Kirche», erklärt Therese Vögeli. Sie ist seit Kurzem Inklusionsbeauftragte in der Reformierten Kirche Kanton Zürich und leitet den Bereich Kirche und Menschen mit einer Behinderung.

Neu unterstützt und begleitet die Ethnologin die Kirchgemeinden darin, Inklusion umzusetzen, etwa bei der Gestaltung einer inklusiven Aktivität. Dabei soll auf einfache Sprache und sinnliches Erleben geachtet werden, damit alle folgen können. Derzeit vollzieht sich laut Vögeli ein spannender Wandel, ja ein eigentlicher Paradigmenwechsel von einer traditionell fürsorgerischen Haltung der Kirche hin zu einem emanzipatorischen Ansatz, der die Menschenrechte ins Zentrum stellt. «Wir wollen Betroffenen nicht einfach sagen, ihr dürft auch kommen, sondern sie aktiv mitgestalten lassen.»

Vielfalt ist die neue Norm

Auf politischer Ebene wird dieser Prozess ebenfalls vorangetrieben. Eine Pionierrolle nimmt der Kanton Genf ein. Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung und umfassender Beistandschaft – in der Schweiz sind etwa 15'000 Personen betroffen – dürfen dort seit März wählen und abstimmen. Auch innerhalb der reformierten Kirche. «Früher gingen wir davon aus, es gibt das Normale und die Ausnahme davon», sagt Vögeli. Heute herrsche die Haltung vor, dass Verschiedenheit die Normalität sei.

Die Inklusion fordert die Kirche aber auch heraus. Es gibt noch viele Baustellen, die teilweise ganz profan sind. Längst nicht jede Kirche und jedes Kirchgemeindehaus ist etwa rollstuhlgängig. Bei anstehenden Sanierungen müssen bauliche Massnahmen für Barrierefreiheit früh eingeplant und betroffene Personen einbezogen werden.

Früher gingen wir davon aus, es gibt das Normale und die Ausnahme davon.
Therese Vögeli, Inklusionsbeauftragte Reformierte Kirche Kanton Zürich

Im Kanton Schaffhausen sind die drei Landeskirchen derzeit gemeinsam mit Pro Infirmis daran, sämt­liche Gebäude digital zu erfassen. Dazu gehören etwa Informationen über die Lichtverhältnisse, Blindenschrift auf Hinweisen, Angebote in Gebärdensprache. Menschen mit einer Behinderung können so selber entscheiden, was für sie machbar ist und ob sie Hilfe in Anspruch nehmen wollen.

Auch Kommunikation soll niemanden ausschliessen

Wichtig sei eine Kommunikation, sagt Vögeli, die niemanden ausschliesse. Ende August finden im Kanton Zürich die Aktionstage Behindertenrechte «Zukunft Inklusion» statt. Da ist die Kirche präsent.

Auf eidgenössischer Ebene wird zurzeit an einer Inklusionsinitiative gearbeitet. Inclusion Handicap arbeitet am Textentwurf mit. Menschen mit Behinderungen sollen die personellen und technischen Ressourcen erhalten, um sich mithilfe einer Assistenz vollumfänglich und selbstbestimmt in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur einbringen zu können. So etwa wie Jasmin, die Sechstklässlerin, die sich in ihrer Schule ganz offensichtlich wohlfühlt.