«Die Frage ist: Was ist denn normal?»

Inklusion

Ein schwerer Unfall hat sie vor elf Jahren aus der Bahn geworfen. Karin Furrer hat ihren Berufswunsch dennoch verwirklicht. Heute ist sie Zierpflanzengärtnerin.

Geduldig entwirrt Karin Furrer einen erdigen Knäuel aus langem dünnem Wurzelgewächs. Mit einer Gartenschere schneidet sie die einzelnen Stränge in zahnstochergrosse Stücke und legt sie in einer Kiste zum Einpflanzen bereit. Um sie herum stehen Töpfe und Kisten in allen Grössen. Es riecht nach feuchter Erde, Pflanzen und Dünger. Furrer ist eine von 180 Angestellten im Garten-Center Ernst Meier AG – und eine von fünfzehn Mitarbeitenden, die mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung leben. Auf den ersten Blick sieht man das der jungen Frau mit dem wachen Blick gar nicht an. Wenn man sich mit ihr unterhält, fällt aber auf, dass sie einen Tick langsamer spricht als andere.

Schwerer Unfall. Im Alter von vierzehn Jahren verunglückte Furrer mit ihrem Mofa und erlitt dabei ein schweres Schädel-Hirntrauma. Es folgten zehn Monate in der Rehabilitation. Heute bereitet es ihr Mühe, mehrere Informationen gleichzeitig zu verarbeiten. Ihre Auffassungsgabe ist durch die Hirnverletzung reduziert und koordinative Aufgaben fallen ihr oft schwer. «Behindert» fühle sie sich aber nicht. Dieses Wort mag die 25-Jährige sowieso nicht. «Denn was ist schon normal? Wer ist wie alle anderen, gilt laut Duden als normal.» Ihre Schlussfolgerung leuchtet ein: «Weil ja keiner ist wie der andere, wären wir alle nicht normal – oder alle behindert.» So liess sie sich trotz Schicksalsschlag nicht von ihrem Weg abbringen und kämpfte sich zurück ins Leben. In der Stiftung Brunegg in Hombrechtikon absolvierte Furrer eine Lehre als Zierpflanzengärtnerin und erlernte damit ihren Traumberuf. Seit Februar 2014 ist sie bei der Ernst Meier AG angestellt. Sie arbeitet zwar Vollzeit, kann aber nur einen Teil der Leistung erbringen. Neben ihrem Lohn erhält sie daher Ergänzungsleistungen von der IV. Teamleiterin Brigitte Hediger ist von ihr begeistert: «Sie ist sensationell, hat sich extrem gut im Team eingelebt und sehr viel gelernt, seit sie hier ist. Als Bereichsleiterin für mehrjährige Pflanzen in der Gärtnerei in Tann-Rüti führt Hediger neun Mitarbeitende, drei von ihnen haben eine Beeinträchtigung. «Sie sind geschützt in einem mittragenden Team und nie sich selbst überlassen.»

Unterdessen hat sich Furrer im Gewächshaus ans Giessen der Setzlinge gemacht. Sie sei eine Optimistin, sehe das Glas immer halbvoll. An ihrem Beruf gefalle ihr vor allem die Vielseitigkeit und die Möglichkeit, häufig an der frischen Luft zu sein. «Ein Bürojob wäre das Falsche für mich.» Eigentlich könne sie auch alle im Betrieb anfallenden Arbeiten verrichten. «Nur fahren darf ich nicht», sagt sie mit Blick auf den kleinen Ladewagen, der im Hof steht und der auf dem weitläufigen Areal manchmal sicher praktisch wäre. Ihre Motivation ist dennoch riesig. «Ich gehe jeden Tag sehr gerne arbeiten.» Im Team fühle sie sich aufgehoben, auch weil ihre Chefin so viel Geduld mit ihr habe: «Wenn ich etwas nicht gleich verstehe, schreibt sie mir genau auf, was ich machen muss.» Verschont bleibe aber auch sie nicht: Im Frühling und Sommer müssen im saisonalen Betrieb alle Angestellten Überstun­den leisten.

Positiver Pol. Bei der Ernst Meier AG hat das Einbinden von beeinträchtigten Menschen Tradition. Als Samenhandlung in Tann gegründet, ist der Familienbetrieb in vierter Generation heute eines der grössten Garten-Center in der Schweiz. 2016 wurde er mit dem This Priis ausgezeichnet. Dieser geht an Firmen, die sich vorbildlich für die berufliche Integration von Menschen mit Behinderung oder Krankheit einsetzen.

Seit Bettina Walser zusammen mit ihrem Bruder an der Spitze des Unternehmens steht, ist ihr Verständnis für beeinträchtigte Menschen noch gewachsen. Im sozialen Engagement sieht sie denn auch nur Vorteile. «Gibt es hin und wieder Unstimmigkeiten im Team, sind es die Kolleginnen und Kollegen mit Handicap, welche die gute Stimmung wieder herstellen. Sie sind ein positiver Pol.» Chefin Walser ist überzeugt davon, dass Firmen ab einer gewissen Grösse Verantwortung für die gesamte Gesellschaft übernehmen müssen: «Das sollte für alle selbstverständlich sein».