Ein Gang in die Höhle zum Andenken an die Glaubensväter

Täufer

Der Umgang der Reformierten mit der Täuferbewegung ist eines der dunkelsten Kapitel der Reformation. Jedes Jahr wandeln Nachkommen aus den USA auf den Spuren ihrer Märtyrer.

Vor 20 Jahren standen sie schon einmal hier. «Als historisch gekleidete Bootsleute diese von einem roten Tuch bedeckte Gedenkplatte feierlich enthüllten, war das ein sehr feierlicher Moment», sagt Dwight Martin. «Es war ein Zeichen der Anerkennung unserer Glaubensgemeinschaft, und es eröffnete einen Freiraum für Versöhnung.» Er sei sehr froh, dass sich das Verhältnis zu den Zürcher Reformierten seither so verbessert habe, sagt Dwight zu seiner Reisegruppe.

Er und seine Frau Joanne führen seit drei Jahrzehnten Gruppen von Mennoniten und Amischen aus den USA an die Plätze, wo die Geschichte ihres Glaubens ihren Anfang nahm. Nun stehen sie hier mit 44 Frauen und Männern zwischen 24 und 90 Jahren unter den Linden an der Schipfe in Zürich, vor ihnen die schwarze Tafel, die in die Quai-Mauer eingelassen ist und an der Touristen und Einheimische meist achtlos vorbeigehen. Im Hintergrund glitzert die Limmat im Sonnenlicht.

Ein Gang durch die Geschichte

«Hier wurden von einer Fischerplattform aus Felix Manz und fünf weitere Täufer in der Reformationszeit zwischen 1527 und 1532 ertränkt» lautet die in den Stein gehauene Inschrift in Grossbuchstaben. Und: «Als letzter Täufer wurde in Zürich Hans Landis 1614 hingerichtet.» 

Die Umstehenden kennen die Geschichte von Manz längst, aber nun an dem Ort des Geschehens zu stehen, ist für alle ein ganz besonderer Augenblick; hier wurde ihr Glaubensgründer gefesselt und mit einem Stock in den Kniebeugen in den Fluss geschmissen – um ihn später wieder herauszuziehen und seine Wasserleiche wie die eines Schwerkriminellen ausserhalb der Stadtmauern zu verscharren.

Die Amische Lois Miller (29) unterrichtet an einer Privatschule in Montana: «Ich lese mit meinen Schülern viel über unsere Geschichte, aber nun hier zu sein, wo unsere Vorväter für ihren Glauben einstanden, bedeutet mir viel», sagt die junge Frau im gewobenen blauen Kleid und weissem Häubchen über dem blonden Haar. Diesen Glauben konsequent zu leben, sei das, was auch sie tun möchte, «und ich will ihn auch an meine Schülerinnen und Schüler weitergeben.» Lois macht fleissig Notizen, damit sie ihren Kindern in der 1. bis 8. Klasse von den Originalschauplätzen ihrer Glaubensgeschichte berichten kann.

Mit dem Schiff zurück über den Atlantik

Die Reisegruppe zieht die Blicke von Touristen und Einheimischen auf sich, auch die Männer mit ihren Hemden und Strohhüten wirken wie aus einem Western, der im 19. Jahrhundert spielt. Vor zwei Wochen sind sie in Europa angekommen, die Hälfte – Mennoniten der alten Ordnung sind etwas fortschrittkritisch – reiste mit dem Schiff, auf der Queen Mary von New York nach Southhampton. Wie damals aber in umgekehrter Richtung, als ihre Vorfahren im 17. und 18. Jahrhundert auf der Flucht vor der Verfolgung in Europa den Atlantik überquerten und sich in Pennsylvania, Ohio oder New York niederliessen: Amische, Mennoniten, Hutterer, amerikanische Bruderschaften wie die «River Brethrens». 

Die meisten der hier versammelten Täufernachfahren gehören konservativen Gemeinschaften an. Nun stehen sie mitten in Zürich, dem Ort, wo all ihre Glaubensrichtungen mit der Reformation ihren Anfang nahmen – aber eben auch die Verfolgung der Ahnen als Andersgläubige bis aufs Blut. «Wir müssen unsere Geschichte immer wieder den künftigen Generationen erzählen», sagt der 90-jährige Amos Hoover. Und sein Sohn John David bittet darum, diesen heiligen Moment zu ehren – mit einem Gebet und Gesang. Die Hoovers betreiben auf ihrer Muddy Creek Farm in Pennsylvania ein Museum und eine Bibliothek zur Geschichte der Täufer.

Den Glauben der Vorväter besingen

In dem Magazin, das die Hoovers herausgeben, veröffentlichen sie immer wieder Originaltexte, Bilder und Lieder aus der 500-jährigen Geschichte. In der aktuellen Ausgabe etwa das deutsche Lied «Nun wolt ich gerne singen», das der Wiedertäufer Hans Betz 1535 im dunklen Kerker von Passau geschrieben hatte. Er wollte dort gern singen und fröhlich sein, aber es gelingt ihm nicht. Deshalb muss er «mein Seel mit Gedult fassen, bis kommt der Tröster mein». Betz erduldete eingekerkert Folter und Elend und starb zwei Jahre später. 

Bei der Schipfe stimmen die Hoovers nun im Gedenken an ihre Märtyrer das Lied «Faith of our Fathers» (Glaube der Väter) von 1849 an – wie schon am Tag zuvor in der Täuferhöhle in Bäretswil . «Wir werden Dir treu sein bis zum Tod», heisst es darin, «trotz Gefängnis, Feuer und Schwert». Die Amischen und Mennoniten singen viel und mehrstimmig und wunderschön auf dieser Reise, an allen Plätzen, an denen sie Station machen, immer auch fröhliche, hoffnungsfrohe Lieder. Auch «Ich will singend entzückt sein» und «in Gott frohlockt mein Herz» sangen sie am Vortag gemeinsam aus voller Brust in der Nagelfluhgrotte im Tösstal. 

Traditionelle bäuerliche Lebensweise

Die meisten Männer vergraben beim Singen ihre Hände vorne in der Hosentasche wie ein Jodelchörli. Einige von ihnen sprechen noch das Pennsylvania-Deutsch untereinander, einen seltsam aus der Zeit gefallenen Dialekt. Der Besuch der Täuferhöhle in der Nähe von Winterthur ist ein Muss für die Nachfahren der Täufer aus den USA. Alle, auch die über 80- und 90-Jährigen nehmen den steilen Aufstieg von Bäretswil aus unter die Füsse. Ihren Täufervorfahren hatte die Höhle hoch oben im Wald «Schutz zu Stille und Gebet» geboten, wie es auf der Messingplatte an der Decke heisst. 

Auf dem atemraubenden Weg interessieren sich die Reisenden in Sachen Glaubensgeschichte für das Braunvieh auf den Weiden – viele von ihnen sind Farmer oder stammen zumindest aus bäuerlichen Familien – und beantworten die Frage, warum sie hier sind. «Wir bemühen uns, das Andenken an unsere Vorväter zu bewahren – auch in unseren Herzen und indem wir ihre Lebensweise ehren und weiterpflegen», sagt John David Hoover, dessen Ahnen einmal Huber hiessen, und wohl 1717 aus der Pfalz in die USA zogen. 

Auch Raymond Burkholder (früher: Burkhalter) junior aus Missouri will hier in den Fussstapfen seiner Ahnen wandeln. «Es bereitet mir aber auch grosse Freude, Gottes Schöpfung zu sehen, überall, aber vor allem auf dem Land wie hier», sagt er. «Es muss hart gewesen sein, aus dieser schönen, grünen Landschaft vertrieben zu werden», ergänzt Joanne Martin.

In der Höhle hält einer der mitgereisten Prediger spontan zu einer kurzen Andacht an und improvisiert eine Predigt zu Hebräer 11 über den Glauben als Stütze in Zeiten der Verfolgung. Im Herbst 1525 hatte sich Felix Manz gute drei Wochen vor den Häschern im nahe gelegenen Girenbad versteckt. Gut möglich, dass er zwischenzeitlich auch in der abgelegenen Höhle Zuflucht fand. Kurz zuvor, am 2. Juli 1525, durfte Conrad Grebel, Täuferführer und Freund von Felix Manz, noch offiziell in der Kirche Bäretswil predigen. 

«Echte gläubige Christen sind Schafe unter Wölfen»

In der «Muddy Creek Review», dem historischen Jahr-Magazin der «Old Order Mennonites», hat Amos Hoover einen Brief Conrad Grebels vom 5. September 1524 abgedruckt. Darin bittet Grebel, Humanist und Sohn eines Patriziers, den deutschen Reformator Thomas Müntzer um Freundschaft und Bruderschaft beim Aufbau einer wahren christlichen Kirche. Und er beklagt sich bitter über die Zürcher Pfarrer der Reformation, die in alten Pfaden feststeckten und einen heuchlerischen Glauben ohne Hoffnung und Liebe praktizierten. 

Nachdem man die biblische Schrift selber in die Hand genommen und konsultiert habe, habe man die schädlichen Unzulänglichkeiten der Hirten aufgedeckt. Bedeutet: Der Zirkel rund um Grebel und Mantz verstand sich als Minderheit, die als Laiengruppe an den Reformatoren vorbei ein wahres Christentum etablieren wollten, indem nur wahre Gläubige, die «Schafe unter den Wölfen», getauft werden. 

Kein Wunder stiessen die umstürzlerischen Lehren, welche die «Wiedertäufer» aus dem Evangelium zogen, bei den Reformatoren in Zürich auf heftigen Widerstand, der in immer brutalere Verfolgungen mündete. So wurden die Täufer bald aus Zürich ins Umland versprengt. Ein gewisser Alex Mack soll sich darum 1525 in der damals weit verzweigten Bäretswiler Höhle drei Wochen lang versteckt gehalten haben. Und noch 1583 wurden ganz in der Nähe zehn Männer, fünf Frauen und sieben Kinder verhaftet, als sie gemeinsam Gottesdienst feierten.

Schöne versöhnliche Töne

Am letzten Tag ihres Zürichbesuchs richtet Bettina Lichtler ein Grusswort der reformierten Landeskirche an die Reisegruppe aus den USA. Sie ist bei der Kirche für Ökumene zuständig und erinnert an diesem 3. Juli 2024 an den Versöhnungsprozess, der ziemlich genau vor 20 Jahren mit einem Schuldeingeständnis begann: «Diese Schuld ist Teil unserer reformierten Geschichte, genauso, wie viele traurige Schicksale die Geschichte der Täuferbewegung prägten», sagt sie zu den Amerikanerinnen und Amerikanern. 

Lichtler steht vor der mächtigen Zwingli-Statue hinter der Wasserkirche. Auch schon soll es Mennoniten gegeben haben, die vor dem bronzenen Reformatoren standen und sagten, das sei der Zwingli, den man kenne: Die Bibel in der einen und das Schwert, um die Glaubensfeinde zu köpfen, in der anderen. Aber seit im Juni 2004 die Gedenkplatte für Felix Manz und seine Gefährten bei der Schipfe platziert wurde, verbunden mit einem Bekenntnis von reformierter Seite, sind sich beide Seiten deutlich näher gekommen. 

In dem bisherigen Versöhnungsprozess habe sich gezeigt, dass man gemeinsam zurückschauen könne, aber auch in der Lage sei, zusammen vorauszuschauen, um ein gemeinsames Zeugnis für den Glauben in der Welt abzulegen, sagt Lichtler. Dabei gelte es, sich bewusst zu machen, dass die Wurzeln beider Glaubensrichtungen in Zürich lägen: «Ich bin glücklich, dass Sie hier sind, um diesen Wurzeln nachzuspüren und dass es möglich geworden ist, die Früchte des Glaubens von unseren beiden Bäumen zu teilen.»

Zwei Äste am selben Baum

Und von mennonitischer Seite klingt es heute ganz ähnlich. Auch die Mennoniten besinnen sich versöhnlich auf die gemeinsamen Wurzeln mit den Reformierten: «Wir sind Zweige desselben Astes am grossen christlichen Baum», sagte etwa John E. Sharp Im Juni 2004, als die Gedenkplatte für Felix Manz und seine Gefährten bei der Schipfe platziert wurde. «Wir sind berufen, im Kleinen und im Grossen für Gottes Versöhnung zusammenzuarbeiten», mahnte der mennonitische Publizist die Anwesenden. Und mit dieser gemeinsamen Aufgabe sei nun auch Zürich ein Stück Heimat geworden – ein Zuhause für jene also, die als Glaubensverfolgte auf andere Kontinente flüchten mussten.