Schwerpunkt 16. November 2020, von Cornelia Krause

Milchig, fleischig oder neutral

Judentum

Von der Bäckerei in den Bagelshop, wo sich jüdische Familien und Googelianer begegnen, zur Metzgerei und in den Supermarkt: ein Rundgang durch koschere Geschäfte in Zürich.

Fein drapiert liegen Eclairs, Quarktaschen und abgepackte Mittagsgerichte in der Kühltheke. In der Fensterauslage der Ma’adan Bakery in Zürich Wiedikon stapeln sich Pralinen, Mohnkuchen und «Eierkichlein». Richard Blättel wirft einen Blick auf die Linzertorte und sagt: «Milchfrei, das ideale Schabbat-Dessert!». Er zeigt auf einen Aufkleber auf der Verpackung. Blättel wohnt in Zürich Wollishofen. Er unterrichtet Deutsch und Philosophie am Gymnasium Seetal im Kanton Luzern. An diesem Donnerstag ist er für den interreligiösen Dialog unterwegs. Er nimmt «reformiert.» mit auf einen Rundgang durch das «koschere Zürich».

Eine Bäckerei für alle

Der Begriff koscher bezieht sich auf die jüdischen Speisevorschriften. Etwa die strikte Trennung von Milch-und Fleischprodukten. Oder, dass Juden nur Fleisch von geschächteten Tieren essen dürfen. Die Ma’adan Bakery liegt an der Schimmelstrasse und ist die erste Station. Es ist eine unwirtliche Ecke: Vielbefahrene Strassen, davor erhebt sich die Autobahn Richtung Süden.

Dennoch herrscht im elegant eingerichteten Geschäft mit den grossen Leuchtern ein reges Kommen und Gehen. Eine Gruppe Mädchen auf Trottinetts kauft Brötchen ein, Paare mit Kinderwagen Gebäck für den Nachmittag. Ultraorthodoxe Juden mit dunklen Mänteln, Frauen mit langen Röcken, prägen das Bild. «Zu uns kommen aber auch viele nicht jüdische Quartierbewohner und immer mehr Veganer», sagt Danny Schächter. Er betreibt die Bäckerei mit -einem Kompagnon. Ihr Alleinstellungsmerkmal: Produkte mit und ohne Milch werden streng getrennt voneinander unter Rabbinatsaufsicht hergestellt und gekennzeichnet. Ein blauer Sticker für «milchig», ein brauner für «pareve», das heisst milchfrei, also neutral.

Mit Saft gebackenes Brot

In Zürich wohnen rund 6000 Juden, vorwiegend in Wiedikon und Enge. «Aber wir wollen eine Bäckerei für alle sein», sagt Schächter. Er hat das Geschäft 2015 eröffnet, nach 30 Jahren im Rohstoffhandel. «Es war uns wichtig, dass Zürich eine koschere Bäckerei hat.» Brot besitzt im Judentum eine besondere Stellung. «Vor dem Essen muss man die Hände waschen und bis zum ersten Bissen schweigen», erzählt Richard Blättel. Eine Geduldsprobe, gerade für Kinder. Nach dem Verzehr von Brot folgt ein langer Segensspruch. Weil dafür manchmal die Zeit fehlt, hat die Bakery spezielle, mit Saft gebackene Brötchen im Angebot. Für dieses «Mezoines»-Brot braucht es nur einen kurzen Segen, das Händewaschen fällt weg. «Es ist somit bestens geeignet für Fastfood wie Hamburger- und Hotdogbrötchen oder Laugenbrezeln», erklärt Blättel und zeigt auf das umfangreiche «Mezoines»-Sortiment, die blauen Augen blitzen hinter den Brillengläsern.

Ein runder Zopf für Neujahr

Die «Challa», einen speziellen Zopf für Schabbat, backen Blättel und seine Frau in der Regel selbst. Danny Schächter führt in die Produktionsräume im Keller, um ein Exemplar zu holen. «Ab hier keine Milchprodukte», mahnt ein Schild am Türrahmen, dahinter erstreckt sich ein Raum mit Teigknetmaschinen, Waagen und Backöfen.   Schächter präsentiert ein rundes, verschlungenes, goldbraunes Backwerk. Die aussergewöhnliche Form sei dem jüdischen Neujahr geschuldet. Die «Challa» unterscheidet sich normalerweise optisch nicht vom klassischen Butterzopf. Die Bäckerei hat weitere Schabbat-Spezialitäten im Angebot, zum Beispiel fertigen «Tscholent», einen deftigen Eintopf, der Stunden auf der Wärmeplatte verträgt. Von Freitag- bis Samstagabend dürfen orthodoxe Juden keine elektrischen Geräte anschalten, Vorkochen ist die Regel.

Süsses gibt es nicht vom Kiosk

Donnerstag ist der klassische Einkaufstag für Schabbat, wie Blättel auf dem Weg zum Bagelshop erklärt. Zwar gebe es den Brauch, jeden Tag etwas für den Feiertag zu kaufen. Doch der hektische Alltag kommt dem Vorsatz schnell in die Quere. Richard Blättel weiss, wovon er spricht: Er pendelt zur Arbeit, hat drei Kinder im Kleinkind- und Schulalter. Neben der Schule engagiert er sich für interreligiöse und geschichtliche Projekte, etwa mit Holocaust-Überlebenden.

Der 47-Jährige bezeichnet sich selbst als «observant», also achtsam mit Blick auf die Gesetze des Judentums. Mit den religiösen Labels tue er sich schwer, sagt er, verorte sich aber am ehesten nahe der modernen Orthodoxie. Er trägt keinen grossen schwarzen Hut oder Schläfenlocken, dafür Schiebermütze über der Kippa und Dreitagebart. Jüdische Speisegesetze verkomplizieren den Alltag. Etwa, wenn die Kinder bei Freunden zum Essen eingeladen sind. «Mein neunjähriger Sohn sagt manchmal der Einfachheit halber, er esse nur vegetarisch», sagt Blättel. Auch viele Süssigkeiten kann er nicht einfach am Kiosk kaufen, es braucht vegane Gummibärchen oder koscher zertifizierte mit Rabbinatssiegel aus dem jüdischen Supermarkt.

Schon mein Grossvater hat in Transsylvanien Bagel gebacken. Ich knüpfe an die Tradition an.
Leah Erlich, Inhaberin Babi`s Bagel Shop

In Babi’s Bagel Shop an der Bederstrasse verwendet Inhaberin Leah Erlich nur Waren mit Siegel, meist importiert. «Amerikanische Bagel haben einen ganz eigenen Geschmack», sagt die 50-Jährige Israelin mit dem hebräischen Akzent. Nur ein Tisch ist gerade besetzt, derzeit sei es leerer, weil viele Kunden im Homeoffice arbeiteten. Sonst mischten sich Googlianer und Banker mit modern- und ultraorthodoxen Juden. Beliebt sei das Café auch bei Familien, die sich vom Einkauf im Sihlcity eine Verschnaufpause gönnen, erzählt Blättel. Die Bagel, wie der Klassiker Lachs mit Cream-Cheese, werden an der Theke nach Kundenwunsch frisch belegt.

Schwarz-weiss-Fotos schmücken die Wände. «Meine Vorfahren», sagt Leah. «Schon mein Grossvater hat in Transsylvanien Bagel gebacken.» Jetzt knüpfe sie an die Familientradition an. So erklärt sich auch der Name des Cafés: Babi ist ein Kosename für Grossmutter. Bagel stamme aus dem Jiddischen, heisse so viel wie gebogen, sagt Blättel. Das runde Gebäck wurde nicht in den USA erfunden, sondern von osteuropäischen Juden dorthin exportiert.

Vegane Restaurants werden zur Alternative

Auf dem Weg zu Fuss zur koscheren Metzgerei erzählt Blättel seine eigene Familiengeschichte. Er wuchs in Luzern auf, seine Vorfahren stammen aus Osteuropa, Südafrika und Österreich. Das Judentum spielte im Alltag keine Rolle. «Erst bei einem längeren Besuch bei südafrikanischen Verwandten begann ich, mich mit meiner jüdischen Herkunft auseinanderzusetzen.»

Über die Frage, ob ihm aus seinem «nicht koscheren Leben» etwas fehlt, muss er nicht lange nachdenken: «Hartkäse!» Denn Käse wird hierzulande in der Regel mit Lab aus Kälbermagen angesetzt und ist daher tabu. Grundsätzlich werde es aber einfacher, sich koscher zu ernähren. Viele Juden besuchen vegetarische Restaurants wie jene der Hiltl-Kette, und auch die Zahl der veganen Gastrobetriebe nimmt zu. Zwar stehen diese Betriebe nicht unter Aufsicht des Rabbinats, doch das Attribut «vegan» reicht observanten Juden wie Blättel meistens.

Cervelat vom Rind

Beim Fleischkonsum sind die Regeln dagegen kaum eine Sache der Interpretation. Koscheres Fleisch stammt nur von Wiederkäuern mit gespaltener Hufe, Schweine- und Rossfleisch etwa sind ausgeschlossen. Im Judentum müssen Tiere zudem rituell geschlachtet werden mit einem Schnitt quer durch die Halsunterseite. In der Schweiz ist das Schächten verboten.

Die Metzgerei Kol Tuv in der Ämtlerstrasse muss das Fleisch, das sie verkauft, importieren, meistens aus Frankreich. Nebst Klassikern wie Hackfleisch und Aufschnitt gibt es im dunkelgrün gekachelten Laden auch Schweizer Spezialitäten: etwa Cervelat aus Rindfleisch. Koscheres Fleisch bedeute mehr als nur Fleisch von geschächteten Tieren, erklärt der Metzgerei-Mitarbeiter an der Theke. «Vor und nach dem Schächten müssen die Tiere begutachtet werden, sie dürfen keine Verletzungen aufweisen.» Schliesslich wird das Fleisch in Salz eingelegt, damit kein Restblut in ihm verbleibt. Weil Blättels Frau Maya jemenitische Vorfahren hat, kommt bei der Familie an Schabbat oft eine jemenitische Hühnersuppe auf den Tisch. Unter der Woche isst sie meist vegetarisch. «Morgen kochen wir aber mal etwas anderes», sagt Blättel und packt ein Stück Siedfleisch in die Einkaufstasche.

Der Segen über dem Wein

Nun fehlt ihm nur noch der Wein, er will ihn im Supermarkt «Koscher City», ein paar Ecken weiter, besorgen. Wein hat ähnlich wie das Brot eine rituelle Bedeutung. Mit dem «Kiddusch» – einem Segensspruch über einen Becher Wein – wird der Schabbat eingeleitet. Der koschere Wein muss von gesetzestreuen Juden unter Rabbinatsaufsicht hergestellt werden. Auch darf nur ein Jude einem anderen den Wein einschenken, besonders bei rituellen Handlungen ist das relevant. Eine Ausnahme gilt für pasteurisierte Weine, sie kommen eher zu rein geselligen Anlässen auf den Tisch.

Koscher essen ist nicht billig. Gerade für kinderreiche Familien sind die Ausgaben schwer zu stemmen.
Richard Blättel, Kantonsschullehrer

Der Supermarkt mit dem grössten koscheren Sortiment der Schweiz ist zweckmässig eingerichtet, keine Werbeaufsteller, dafür lange Regalreihen und eine grosse Auswahl an Chardonnay, Bordeaux oder Syrah. Am Donnerstag ist «Koscher City» bis 22 Uhr geöffnet. An diesem Abend schieben vor allem ultraorthodoxe Juden ihre Einkaufswagen durch die Gänge.

Viele Spezialitäten füllen die Gefriertruhen, etwa «gefilte Fisch» – eine beliebte Fischmasse zum Sieden, wie Blättel erklärt. Im Süssigkeitenregal finden sich bunte Lollipops und Marshmallows aus den USA und Kanada. Meist stellten Firmen ihre Produktion wenige Wochen im Jahr auf koscher um, sagt Geschäftsführer Israel Bloch-Erlanger ein paar Tage später am Telefon. So etwa Haribo, das «Goldbears» mit Fischgelatine vom Rabbiner aus Manchester zertifizieren lässt. Das schlägt sich in einem höheren Preis nieder, wie auch Blättel sagt. «Koscher essen ist nicht billig.» Insbesondere für kinderreiche Familien seien die Ausgaben für Lebensmittel, die sämtlichen religiösen Vorgaben genügen, manchmal schwer zu stemmen.

Gemüse aus dem Grossverteiler

Gewisse Lebensmittel führt Bloch-Erlanger, der das Geschäft in dritter Generation hält, nicht oder nur in kleinen Mengen, wie zum Beispiel Öl oder Milch. Diese Produkte kaufen die meisten Juden im normalen Supermarkt. Auf einer Koscherliste, die neuerdings auch mit einer App auf das Smartphone geladen werden kann, sind Produkte aufgelistet, die zwar kein Rabbinatssiegel haben, aber im normalen Handel gekauft werden können.

Auch die Einkaufstour von Richard Blättel wird im herkömmlichen Grossverteiler enden. Vorher verabschiedet er sich. Für sein wärmeplattentaugliches Schabbatgericht braucht er jetzt nur noch Bohnen sowie Kartoffeln. Gemüse sei «pareve», also neutral, sagt er. «Deswegen ist auch das jetzt ein Fall für die Frischeabteilung von Migros oder Coop.» Er verlässt den koscheren Supermarkt mit der Synagoge gegenüber und biegt an der Weststrasse um die Ecke.

«Den Kopf darf man nicht zu Hause lassen»

Ruth Gellis von der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich über die jüdischen Speisegesetze.

Die Speisegesetze des Judentums sind sehr umfangreich. Wo liegen ihre Ursprünge?

Ruth Gellis: Die Basis der Speisegesetze, der sogenannten Kaschrut, befindet sich in der Tora. Mose hat sie auf dem Berg Sinai schriftlich und auch mündlich erhalten. Im Kern geht es um Regeln, welche Tiere gegessen werden dürfen, also Wiederkäuer mit gespaltenen Hufen, Fisch und viele Geflügeltiere. Zentral ist auch, dass diese Tiere nur gegessen werden dürfen, wenn sie geschächtet wurden. Und dann heisst es in der Tora, man dürfe ein Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen. Das wurde so interpretiert, dass Fleisch- und Milchprodukte nicht zusammen verzehrt werden dürfen. Die Gesetze wurden im Laufe der Jahrtausende aber auch weiterentwickelt.

Was ist der religiöse Hintergrund des Schächtens? Gilt das Blut der Tiere als unrein?

Nein, gar nicht. Eher das Gegenteil ist der Fall. Im Judentum sagen wir, im Blut ist die Seele eines Lebewesens. Und diese Seele dürfen wir nicht essen. Das Fleisch muss deswegen frei von Blut sein, was durch die schnelle Tötung des Tieres und sein Ausbluten, aber auch durch das Einlegen von Fleisch in Salz erreicht wird. Es gibt ein Sprichwort: «Man ist, was man isst». Auch dieser Gedanke spielt da eine Rolle.

Sie sagten, die Speisegesetze entwickeln sich weiter. Gibt es auch heute noch Veränderungen?

Auf jeden Fall. Früher musste sogar die Milch ein Rabbinatssiegel aufweisen. Es bestand ja die Möglichkeit, dass Kuhmilch mit Eselsmilch versetzt wird. Heutzutage sind bei vielen Lebensmitteln die Produktionsbedingungen und die Inhaltsstoffe derart transparent, dass man sie auch ohne Siegel im normalen Supermarkt kaufen kann. Dafür wurde die Koscherliste erstellt. Sie ist sozusagen eine laufende Weiterentwicklung der Speisegesetze. Es gibt aber auch ultraorthodoxe Juden, die sich darauf nicht verlassen.

Ist koscher essen also auch eine Sache der Interpretation?

Sie werden keinen Rabbiner finden, der sagt, es sei in Ordnung, in ein vegetarisches oder veganes Restaurant zu gehen. Trotzdem besuchen die Mitglieder unserer Israelitischen Cultusgemeinde in Zürich diese Restaurants nach eigenem Gutdünken. Ein ultraorthodoxer Jude würde das hingegen nie tun. In vielen Fragen entscheidet jeder für sich. Gewisse Gesetze, etwa, dass ein Nichtjude einem Juden keinen Wein einschenken darf, finde ich persönlich heute schwierig.

Sie stehen manchen Speisegesetzen kritisch gegenüber?

Ja. Und das ist auch legitim. Die Tora ist nicht für den Himmel gegeben worden, sondern für die Erde. Zu Hause lassen darf man den Kopf nicht.