«Wir sind alle vom Meer abhängig»

Meer

Matthias Egger ist als Wissenschaftler an einer riesigen Aufräumaktion von Plastikmüll beteiligt. Denn: Wenn Berge zu bröckeln beginnen, habe das auch mit dem Meer zu tun. 

Welche Bilder sehen Sie vor sich, wenn Sie ans Meer denken? 

Matthias Egger: Das eine ist ein Bild der Tiefsee. Es symbolisiert für mich das Unbekannte. Dieses dunkle Bild treibt mich als Wissenschaftler an. Das andere Bild ist klassisch: Meine ersten Erinnerungen an das Meer sind Strandferien als Kind mit der Familie in Italien.

Sie sind Appenzeller. Da ist es nicht gerade das Naheliegendste, dass man Meeresforscher wird. 

Für mich war seit dem Gymnasium klar, dass ich mich beruflich mit dem Meer befassen will.

Was fasziniert Sie so am Meer? 

Diese unbekannte Welt. Dazu hat man als Schweizer keinen alltäglichen Bezug.

Da hätten Sie auch das Weltall erforschen können. 

Nein, es musste das Meer sein! Mit seinen Farben, seinen Lebewesen, den Geräuschen, mit dem Salz im Wasser, das in den Augen brennt. Das mag ich. Wenn man ins Meer springt, ist man buchstäblich in einer anderen Welt.

Matthias Egger, 38

Der Appenzeller hat an der ETH Zürich Umweltnaturwissenschaften studiert und ist seit 2018 einer der Chefwissenschaftler beim Non-Profit-Unternehmen The Ocean Cleanup. Gegründet wurde dieses vom Niederländer Boyan Slat mit dem Ziel, bis 2040 rund 90 Prozent des treibenden Abfalls aus dem Meer zu holen. Egger lebt mit seiner Familie in St. Gallen.

Seit 2018 leiten Sie die Forschungsabteilung beim Projekt The Ocean Cleanup, das die Meere von Plastikmüll befreit. Wie kam das? 

Als Umweltwissenschaftler nahm ich im Nordatlantik, in der Ostsee oder im Schwarzen Meer an Expeditionen teil. Ich sammelte Proben, wertete Daten aus, publizierte Studien. Um festzustellen, dass sich der Zustand der Meere weltweit stetig verschlechtert. Für mich fühlte es sich an, als ob ich das Sterben eines Patienten dokumentieren würde. Aber ich wollte all mein Wissen für die Heilung einsetzen.

Wie wichtig ist das Meer für das gesamte Ökosystem? 

Das Meer ist ein zentraler Teil. Was man sieht, wenn man zehn Kilometer in die Tiefsee taucht, ist relevant für das Klima in unseren Alpen. Die Erde vom Weltall aus gesehen ist blau, nicht grün. Wir sind alle vom Meer abhängig.

Auch in der Schweiz? 

Auch hier. Aber wie in anderen Binnenländern sehen das viele nicht. Bei uns ist das Meer gleichgesetzt mit Ferien. Man könnte überspitzt sagen: Wenn es keinen Fisch mehr gibt, dann esse ich halt Kuh. Aber wenn unsere Gletscher schmelzen und unsere Berge bröckeln, hat das auch mit dem Meer zu tun.

Was wir machen, ist eigentlich Pflästerlipolitik: Der Patient, in unserem Fall das Meer, blutet, und wir kleben ein Pflaster drauf. Langfristig braucht es eine Veränderung des Systems.

Welche Rolle haben Sie bei The Ocean Cleanup?

Ich erforsche unter anderem, wo und wie der Plastikmüll ins Meer gelangt und wohin er sich dort bewegt. Diese Daten brauchen wir, damit wir unser System stetig verbessern können, mit dem wir den Müll wieder aus dem Wasser fischen.

Was passiert mit diesem Abfall? 

Für uns ist es wichtig, dass der Abfall nicht wieder im Meer landet. In vielen Ländern gibt es aber keine Abfallentsorgung, so wie wir sie kennen. Oftmals ziehen wir mit der lokalen Bevölkerung und der Regierung eine Verbesserung der Abfallbewirtschaftung auf. 

Bis 2040 den treibenden Abfall zu 90 Prozent aus dem Wasser zu holen – ist dieses Ziel realistisch? 

Unsere Berechnungen zeigen, dass das möglich ist. Was wir machen, ist eigentlich Pflästerlipolitik: Der Patient, in unserem Fall das Meer, blutet, und wir kleben ein Pflaster drauf. Langfristig braucht es eine Veränderung des Systems.

Und was helfen diese Pflästerli? 

Wir verschaffen dem Meer Zeit. Es kann sich erholen, bis es den Menschen gelungen ist, das System zu verbessern. Eine solche Veränderung dauert Jahrzehnte. Würde die Menge an Abfall im Meer in dieser Zeit grösser und grösser, könnte das ganze Ökosystem kippen.

Das ist ja gerade das Problem. Das Meer im Grossen und Ganzen gehört allen und niemandem.

Was haben Sie gedacht, als Sie zum ersten Mal den Plastikmüllteppich im Pazifik gesehen haben?

Es war surreal. Unser Schiff legte in Honolulu ab. Wir fuhren fünf Tage lang hinaus aufs Meer, und plötzlich sah ich immer mehr Objekte auf dem Wasser treiben. So alle 20 Sekunden schwamm etwas vorbei. Man ist extrem weit weg von der Zivilisation und gleichzeitig umgeben von ihrem Müll. Mich erinnerte das Bild an einen Konfettiteppich aus Plastik und Mikroplastik. Er ist dreimal so gross wie Frankreich. Das machte mich sprachlos.

Welchen Schaden richtet das Plastik im Meer an? 

Die grossen Objekte sind gefährlich für Tiere, die sich darin verfangen oder das Plastik fressen. Sicher am gefährlichsten für das ganze Ökosystem ist aber das Mikro- und Nanoplastik. Dieses wird mitsamt seinen Chemikalien von Lebewesen aufgenommen und dabei verteilt. Zudem reduziert das Mikroplastik die Fähigkeit des Meeres, Kohlendioxide aufzunehmen und zu speichern. Das hat eine direkte Auswirkung aufs Klima.

Wer ist verantwortlich für den Schutz der Meere? 

Alle. Und gleichzeitig niemand. Das ist ja gerade das Problem. Das Meer im Grossen und Ganzen gehört allen und niemandem.

Was kann das Individuum für den Schutz tun? 

Jede Person kann im Kleinen etwas beitragen. Weniger shoppen, weniger Fleisch essen, weniger fliegen. Bei The Ocean Cleanup wollen wir aber niemandem vorschreiben, wie er oder sie zu leben hat. Unser Fokus ist das Meer.

Wir sind acht Milliarden Menschen. Wenn jeder sein Verhalten etwas anpasst, können wir viel bewegen.

Gerade grosse Umweltorganisationen gehören zu den schärfsten Kritikern des Projekts. Weshalb? 

Umweltorganisationen kritisieren, dass wir Symptome bekämpfen statt die Ursache. Ich glaube, dass es beide Ansätze braucht und dass sie sich gegenseitig stärken. Kritiker sagen, dass unsere Lösung nicht perfekt sei. Sie muss aber bloss besser sein als Tatenlosigkeit.

Müssen wir Angst haben um das Meer? 

Angst ist aus meiner Sicht nicht der richtige Weg. Man muss den Menschen nicht Angst machen, sondern Hoffnung geben. Das heisst nicht, dass man Probleme kleinredet. Aber es gibt Lösungen.

Können Sie privat noch unbeschwert ans Meer reisen? 

Nein, The Ocean Cleanup hat mir die Strandferien für immer verdorben. Sobald wir am Strand sind, fange ich an, Abfall zu suchen. Und sobald ich ins Meer springe, fällt mir auf, dass es zu warm ist. Oder dass es weniger Korallen und Fische hat.

Was gibt Ihnen Hoffnung? 

Das Meer erholt sich, wenn man ihm Gelegenheit gibt. Es ist nicht zu spät. Wir sind acht Milliarden Menschen. Wenn jeder sein Verhalten etwas anpasst, können wir viel bewegen.