Meine Sehnsucht nach dem Meer regte sich schon früh. Als Bub liess ich kaum einen Jugendroman aus, in dem das Meer vorkam. Besonders intensiv wehte mich der Geruch der Weltmeere bei meiner Urgrossmutter an. Sie war verwitwet von Frankreich in ihre alte Schweizer Heimat zurückgekehrt und verbrachte bei uns im Kanton Bern den Lebensabend.
Auf einer Schrankablage in ihrer Altstadtwohnung standen mehrere maritime Gegenstände, unter anderem ein Korallenstock, gross wie ein Blumenkohl, und ein Bild, golden eingerahmt. Es zeigte einen jungen Mann in dunkler Uniform. Das war Onkel Georges, ein Sohn meiner Urgrossmutter, gelernter Matrose.
Einen französischen Seemann als Grossonkel hatte ich also, jemand, der wusste, wie man Taue verknotet, den Anker lichtet, Schiffe steuert und sich bei einem Sturm auf den Beinen hält! Ihn kennenzulernen, blieb mir jedoch verwehrt, er war etliche Jahre vor meiner Geburt an einer Lungenkrankheit verstorben.
Ebbe und Flut
Gross und grösser wurde mein Wunsch, das Meer, diese magische, mythische und abenteuerreiche Wasserfläche, einmal zu sehen. Ich war bereits 17, als es endlich so weit war. Mein Vater und ich befanden uns zu Besuch bei einer Tante in Paris, dann ging es für zwei Tage in die Bretagne an den Ärmelkanal.
Irgendwo in Cancale, dem für seine Austern berühmten Städtchen, stellte der Vater das Auto ab. Nach ein paar Minuten Fussmarsch waren wir am Strand: Unter dem hellgrau verschleierten Himmel breitete sich eine von unzähligen Rinnsalen zerfurchte, sandige und schlickige Fläche aus, so weit das Auge reichte. Es war der von der Ebbe freigelegte Meeresgrund, das Meer selbst war ganz weit hinten am Horizont bloss als kleines, im Herbstlicht sanft schimmerndes Band zu erkennen.