Schwerpunkt 09. September 2021, von Cornelia Krause

Von der Auferstehung einer Kirche am Ground Zero

Ausland

Vor 20 Jahren wurde die St. Nicholas Church unter den Zwillingstürmen begraben. Bald öffnet am Ground Zero eine neue Kirche die Tore. Sie soll Menschen Raum zum Trauern geben.

Die Erinnerung an den 11. September 2001 hat Bill Tarazonas nie losgelassen. «Ich war gerade in der Kirche, als das Gebäude anfing zu wanken, und ich fragte mich, was da passiert», sagte der einstige Sigrist der Kirche St. Nicholas in New York dem Fernsehsender CBS. «Dann ging ich vor die Tür, und mir offenbarte sich der schlimmste Anblick meines Lebens.» Teile eines Flugzeugfahrwerks lagen auf dem Parkplatz der griechisch-orthodoxen Kirche, in seinem Lieferwagen fand Tarazonas Leichenteile. Zu Fuss flüchtete er.

Als kurz darauf der Südturm des World Trade Centers einstürzte, war ihm klar: Die Kirche ist Vergangenheit, begraben unter den Trümmern, dem Schutt und dem Staub der Zwillingstürme, in die islamistische Terroristen zwei Passagierflugzeuge gesteuert hatten. Der Boden, auf dem die Kirche stand, wurde wie Ground Zero zum Massengrab der 2977 Todesopfer, von denen kaum etwas übrig blieb. «An dem Tag habe ich einen Teil von mir verloren», sagt Tarazonas.

Anlaufstelle für Einwanderer

Die kleine griechisch-orthodoxe Kirche war abgesehen vom World Trade Center das einzige Gebäude, das am 11. September einstürzte. In der Kirche selbst befand sich zu dem Zeitpunkt niemand. Das schlichte Gotteshaus an der 155 Cedar Street war einmal eine Taverne, griechische Immigranten funktionierten sie in den 1920er-Jahren zum Gottesdienstort um. Für viele Einwanderer war die Kirche über Jahrzehnte hinweg die erste Anlaufstelle in New York.

Im Lauf der Zeit schossen die gewagten Stahl- und Glasbauten der Wall Street rund um die Kirche empor. Und im Jahr 1973 eröffnete als ein unmittelbarer Nachbar das World Trade Center seine Türen. Mitten im Wall-Street-Dschungel sei die Kirche mit ihrer warmen Atmosphäre und den zahlreichen Ikonen ein Ort des Trostes und der Geborgenheit gewesen, erinnert sich Alex Karloutsos, Generalvikar der griechisch-orthodoxen Erzdiözese von Amerika. «Es kamen Menschen unabhängig von ihrer Religion. Juden, Christen, Muslime oder Hindus, die Ruhe suchten und Besinnung», sagt er bei einem Telefongespräch mit «reformiert.».

Beten in Schuttbergen

Die Zahl der regelmässigen Kirchgängerinnen und Kirchgänger war nicht gross, doch das Gemeindeleben lebendig. Die prominente Lage der Kirche in Manhattan weckte Begehrlichkeiten. Angebote, das Land zu kaufen, gab es zuhauf. Doch die Gemeinde blieb standhaft. Erst 9/11 setzte der St. Nicholas Church ein jähes Ende. Nur wenige Reliquien wurden in den Trümmern gefunden. Filmaufnahmen zeigen, wie der damalige Priester der Kirche inmitten der Schuttberge für die Rettungskräfte betet.

Jedes Jahr wird in New York am 11. September der Toten gedacht. Zwei Jahrzehnte nach dem Attentat geht es auch um einen Neubeginn, um eine Auferstehung. Im nächsten Frühling öffnet nur wenige Meter vom einstigen Standort der Kirche ein neues Gotteshaus seine Tore: die Saint Nicholas Greek Orthodox Church and National Shrine.

Diese Kirche ist nicht irgendeine Kirche in Lower Manhattan. Sie gehört New York, den USA, der ganzen Welt.
Michael Psaros, Friends of Saint Nicholas

Das Projekt geht weit über den Wiederaufbau einer einst kleinen Kirche hinaus. «Diese Kirche ist nicht irgendeine Kirche in Lower Manhattan, diese Kirche gehört New York, den USA, der Welt», sagt Michael Psaros zu «reformiert.». Er ist ein prominenter US-Investor und Vizevorsitzender der Friends of Saint Nicholas. Die Ende 2019 gegründete Organisation ist zuständig für den Bau und die Finanzierung des Projekts sowie den späteren Unterhalt der Kirche. 

Psaros vermutet, dass die Saint Nicholas Greek Orthodox Church and National Shrine das meistbesuchte Gotteshaus in New York sein wird und eines der bestfrequentierten des Landes. Mehrere Millionen Touristen dürfte es jedes Jahr anziehen, auch wegen der räumlichen Nähe zum 9/11-Mahnmal, das den Standort der einstigen Zwillingstürme markiert.

Die Kirche an der 130 Liberty Street wird dadurch zum weltweiten Aushängeschild der orthodoxen Kirche. «Wir haben Kathedralen in Moskau, Kiew, Athen, Belgrad, Sofia oder New York, sie werden vor allem von orthodoxen Gläubigen besucht.» Diese Kirche sei eine Kirche für alle Menschen, sagt Psaros.

Ort zum Trauern

Im grossen Kirchenraum wird wie früher die Messe für die griechisch-orthodoxe Gemeinde gefeiert. Doch die Kirche soll gleichzeitig Menschen aller Glaubensrichtungen offenstehen. Nicht zuletzt, weil sie der einzige religiöse Ort in der Umgebung von Ground Zero ist. Das grosse Mahnmal, das den einstigen Standort der Zwillingstürme markiert und in dessen Stein die Namen der Getöteten eingraviert sind, ist bewusst säkular gehalten.

Im zweiten Stock der Kirche sollen Menschen unabhängig von ihrem Glauben trauern und sich besinnen können. Diese Räume sind nicht nur für die Familien und Freunde der Opfer vom 11. September gedacht. Aber für sie dürfte der Ort eine besondere Rolle einnehmen, denn viele Anschlagsopfer konnten nicht einmal mehr bestattet werden, ihre Angehörigen mussten auf Gräber verzichten. Michael Psaros sieht die Kirche daher auch als «Ehrengrabmal», zur «ewigen Erinnerung an die Opfer», denen ein Grabstein verwehrt blieb.

Jesus sagt, du sollst deine Feinde lieben, du sollst ihnen vergeben. Auch das ist die Botschaft dieser Kirche.
Alex Karloutsos, Generalvikar

Die Saint Nicholas Greek Orthodox Church and National Shrine sollte ursprünglich zum 20. Jahrestag der Anschläge fertig werden. Doch die Pandemie verzögerte die Eröffnung, nun wird es Ostern 2022. Der Gedenkgottesdienst für die Familien der Opfer wird dieses Jahr ausserhalb des Gebäudes gefeiert. 

Ein besonderes Ereignis steht dennoch bevor: Erstmals wird am Vorabend des 11. September die Kuppel der Kirche hell erleuchtet. Die Illumination wird fortan Teil der nächtlichen Stadtansicht sein. Sie hat Symbolcharakter, da sie auf das Osterlicht anspielt, das in orthodoxen Gottesdiensten seit Jahrhunderten an alle Gläubigen weitergereicht wird. Die «auferstandene» Kirche erinnert an die Auferstehung Jesu als zentrale Botschaft des Christentums. 

Für Psaros steht die Kirche für «den Triumph des Lichts über die Dunkelheit, des Guten über das Böse, der Auferstehung über den Tod». Damit sende sie ein weiteres Signal aus, ergänzt Priester Alex Karloutsos. «Jesus sagt, du sollst deine Feinde lieben, du sollst ihnen vergeben. Auch das ist die Botschaft dieser Kirche.»