Schwerpunkt 16. Januar 2024, von Sandra Hohendahl-Tesch

Von der Gasse in die eigenen vier Wände

Sozialpolitik

Die Beaufsichtigte Wohnintegration der Stadt Zürich bietet abhängigen und psychisch kranken Menschen ein Zuhause ohne Auflagen. Das Projekt ist eine Annäherung an Housing-First.

Beim WC-Häuschen der Migros Limmatplatz fand sie in kalten Wintermonaten Unterschlupf. Ab und zu bekam sie von mitleidigen Passanten ein Sandwich in ihren Einkaufswagen gelegt, der ihre Siebensachen beherbergte. «Ruschi», wie sie genannt werden will, war eine stadtbekannte Obdachlose. Sie schüttelt ungläubig den Kopf, wenn sie an die Zeit auf der Gasse zurückdenkt. Es sei, als versuche man sich im Winter die Sommerhitze vorzustellen. «Etwas, das irgendwie nicht geht», sagt sie und nimmt einen Schluck aus ihrer Bierdose. Seit vier Jahren lebt die 53-Jährige in ihren eigenen vier Wänden in der Beaufsichtigten Wohnintegration an der Neufrankengasse 6. Es ist das neuste Projekt der Stadt Zürich, das in Richtung von Housing-First geht (siehe Infotext). Ihre Wohnung möchte Ruschi an diesem Tag kurz vor Weihnachten lieber nicht zeigen. Erzählt sie jedoch von ihrem Reich, dann leuchten ihre Augen: ein Badezimmer und eine Kochnische – «ein Traum ist für mich Wirklichkeit geworden».

Drehtüreffekt durchbrechen

Den Wohnblock im Kreis 4 erwarb die Stadt 2019. Sie realisierte 42 rund 25 Quadratmeter umfassende, rudimentär möblierte Wohneinheiten. Das Angebot richtet sich an Menschen aus Stadt und Kanton Zürich, die sonst nirgends mehr unterkommen. Viele der Bewohnerinnen und Bewohner sind so wie Ruschi suchtkrank, oder sie haben verschiedene psychische Leiden. «Diesen Zyklus von Obdachlosigkeit, sozialen Wohneinrichtungen und psychiatrischer Klinik haben unsere Bewohnenden oft mehrfach erlebt», sagt Valérie Vodoz, Leiterin der Abteilung Wohnintegration im Sozialdepartement. Diesen «Drehtüreffekt» gelte es zu durchbrechen, indem die Menschen ein dauerhaftes Zuhause erhalten. Nach einer dreijährigen Projektphase zog die Stadt 2022 ein durchweg positives Fazit, «wir sind beinahe voll ausgelastet und haben sehr wenig Ausschlüsse», so Vodoz. Momentan leben im Haus 41 Menschen, erstmals mehr Frauen als Männer. Am Eingang kontrollieren rund um die Uhr Mitarbeitende hinter einer Glasscheibe, wer ein- und ausgeht. Ein geschmückter Baum kontrastiert im Eingangsbereich mit der kalten, vom Zigarettenrauch erfüllten Atmosphäre und strahlt in diesen Tagen etwas Wohnlichkeit aus.

Beim Verlassen der Wohnung geben die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Zimmerschlüssel ab und erhalten sie beim Nachhausekommen zurück. Von Mitternacht bis morgens um sieben Uhr darf niemand mehr hinein. «Das passt nicht immer allen», sagt der Teamleiter der Beaufsichtigten Wohnintegration, Andreas Tübben. «Aber die meisten Bewohnenden sind froh, fixe Ruhezeiten zu haben.» Gänge und Eingangsbereich sind mit Videokameras überwacht, um Drogenhandel, Prostitution oder Gewalt zu verhindern. So verlangt es die Hausordnung. Die Überwachung des Gesundheitszustands sowie der Wohn- und Sozialkompetenzen der Bewohner erfolgt durch Fachpersonal mit einer Ausbildung in den Bereichen Justizvollzug, Psychiatriepflege oder Soziale Arbeit.

Zufriedener FCZ-Fan

Auf dem Rundgang durchs Haus klopft Tübben bei Thomas an. Der ehemalige Drogenabhängige, der in Wahrheit anders heisst, hat kein Problem damit, einen Blick in sein Zimmer zu gewähren. Er sitzt am Tisch, vor ihm ein Bier, an der Wand eine FCZ-Fahne. Er sei «happy», habe alles, was er brauche. Mit dem Teamleiter Tübben, der Thomas seit Platzspitzzeiten kennt, pflegt er einen fast kollegialen Umgang. «Ein super Typ, aber streng», sagt er mit einem Grinsen im Gesicht. Der Konsum illegaler Substanzen ist im Haus erlaubt und kein Ausschlusskriterium. Auch mit diesen Vorgaben ähnelt die Beaufsichtigte Wohnintegration dem Konzept von Housing-First, das in Finnland bereits 2008 erfolgreich etabliert wurde (siehe Interview). Ein Dach über dem Kopf wird nicht als Belohnung für Abstinenz oder psychiatrische Behandlung betrachtet, sondern als Grundrecht. Wohnen soll so zum Ausgangspunkt für eine erfolgreiche Reintegration werden.

Doch längst nicht alle Obdachlosen haben das Glück einer eigenen Wohnung. In der Schweiz sind laut einer Untersuchung der Hochschule für Soziale Arbeit Nordwestschweiz 2200 Menschen obdachlos, hinzu kommen 8000, die von Wohnungsverlust bedroht sind. Gerade in Städten wie Zürich ist Wohnraum knapp. Dennoch startet die Stadt dieses Jahr ein neues Housing-First-Pilotprojekt. Die Bewohner sollen neben einem bedingungslosen Zugang beispielsweise mehr Autonomie in Bezug auf die Betreuung erhalten, heisst es auf Anfrage. Derzeit suche das Sozialdepartement Wohnraum, was herausfordernd sei. Auch Basel-Stadt setzt in einem Projekt mit der Heilsarmee bereits auf Housing-First.

Auf Gott vertrauen

5100 Franken im Monat kostet ein Platz in der Beaufsichtigten Wohnintegration. Bezahlt wird dies von den Sozialen Diensten oder der IV. Was nach viel töne, sei tatsächlich weit weniger, als eine Person koste, die sich über Jahre hinweg zwischen medizinisch-psychiatrischen Einrichtungen, Gefängnis und Strasse befinde, sagt Tübben. Verschiedene Fachdienste arbeiten Hand in Hand. Regelmässig ist der stadtärztliche Dienst im Haus präsent. Man stehe im Austausch mit der aufsuchenden Sozialarbeit Sip Züri und mit der Stadtpolizei, die laut Tübben falls nötig in wenigen Minuten vor Ort sei. Das Ziel sei es, Betroffene durch eine beaufsichtigte, dauerhafte Wohnlösung zu stabilisieren. Bei Ruschi ist das gelungen. Dank einem Dach über dem Kopf und Methadon kann sie in Würde leben. Halt gebe ihr der Glauben an Gott. «Ich wurde sogar mal konfirmiert.» Das sei zwar lange her, aber eins sei ihr geblieben: «das Vertrauen, dass da oben jemand da ist und auf mich aufpasst».

Radikale Umsetzung

Wohnen wird in vielen Ländern zunehmend als Grundrecht verstanden, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten ist. An einer Konferenz beschlossen die EU-Staaten 2021, die Obdachlosig­keit bis ins Jahr 2030 zu überwinden. Dies unter anderem mit Housing-First: Obdachlosen wird zuerst eine Wohnung gewährt, ohne dies an bestimmte Bedingungen zu knüpfen. In Zürich wurde die Einführung des Modells 2022 im Stadtparlament gefordert; 2024 soll ein Pilotprojekt starten.