Recherche 16. Mai 2022, von Nadja Ehrbar

Nach Zürich reisen für Gratis-Essen

Nothilfe

Der Verein «Essen für alle» verteilt in Zürich kostenlose Essenspakete. Seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine stehen auch Hunderte von Flüchtlingen stundenlang an.

Samstagmorgen, kurz nach 10.30 Uhr. Der Perron im Zürcher Hauptbahnhof füllt sich. Der Menschenstrom, der sich über die Rolltreppe vom Shopville in Richtung Gleis 21 bewegt, reisst nicht ab. Es sind vor allem Frauen, Kinder, Jugendliche. Sie haben Taschen oder einen Rollkoffer dabei und sprechen ukrainisch. Als der Zug der Sihltal-Uetliberg-Bahn einfährt, steigen sie ein. Ihr Ziel: die Essensausgabe von «Essen für alle» in Zürich-Manegg.

Da ist zum Beispiel der 38-jährige Eduard Jowbak mit seinen beiden Kindern im Alter von fünf und zehn Jahren. Sie sind vor drei Wochen aus dem Westen der Ukraine in die Schweiz eingereist und wohnen in einem Hotel in Thun. Essen bekämen sie dort keines, sagt Jowbak. Sie hätten sich zwar beim Bund registriert und den Schutzstatus S erhalten. «Doch zum Leben reicht das Geld nicht», sagt Jowbak.  

Der schnelle Weg zum Schutzstatus S

Für die Flüchtlinge aus der Ukraine hat der Bundesrat erstmals den Schutzstatus S aktiviert. Er wurde nach der Jugoslawienkrise eingeführt, weil die Ämter die hohe Zahl von Asylgesuchen kaum bewältigen konnten. Beantragen kann den Status, wer bis zum Kriegsausbruch am 24. Februar eine feste Aufenthaltsbewilligung in der Ukraine besass.

Arbeit, Schule, Familiennachzug

Betroffene durchlaufen kein ordentliches Asylverfahren, dürfen arbeiten und erhalten Sozialhilfe, die aber tiefer ist als bei regulären Flüchtlingen. Sie können ihre Familienangehörigennachziehen und die Kinder zur Schule schicken. Nach fünf Jahren erhalten sie ein befristetes Aufenthaltsrecht. Flüchtlinge, die am Hauptbahnhof Zürich ankommen, erhalten Verpflegung, werden von Freiwilligen un- terstützt und an die Bundesasylzentren weiterverwiesen, wo sie sich für den Schutzstatus S registrieren lassen können. In der alten Kaserne betrei- ben Stadt und Kanton eine Empfangsstelle. Geflüchtete erhalten dort auch Tipps für eine Unterkunft. Laut dem Staatssekretariat für Migration dauert es in Regionen mit hohem Andrang wie in Zürich (bisher 7500 Registrierte) länger als nur einige Tage, bis ein Gesuch bearbeitet ist. Auch haben sich Betroffene teilweise mehrfach re- gistriert, was den Prozess verlängert.

In den Zug gesetzt haben sich auch Eduard Kowalow, Oleksandra, Daniil Shewchuk und Danylo Stezenko. Die Jugendlichen sind zwischen 16 und 18 Jahre alt. Sie kommen aus Apostolowe im Süden der Ukraine, und Schytomyr, das westlich von Kiew liegt. Sie sind bei Freunden in Menziken und Solothurn untergekommen. «Die haben uns gesagt, dass wir hier in Zürich Hilfe bekommen», sagt Kowalow.

Warten auf die Fürsorge

Die Initiative «Essen für alle» entstand zu Beginn der Pandemie und verteilte in der Autonomen Schule Zürich, dann in der Nähe des Hauptbahnhofs Essenspakete an Bedürftige. Mittlerweile wurde ein Verein gegründet, die Essensabgabe an die Allmendstrasse verlegt. Die Pakete beinhalten Reis, Öl, Teigwaren, Gemüse, Obst, manchmal Käse oder Trockenfleisch und Hygieneartikel wie Windeln oder Damenbinden. Sie reichen für eine Woche. 

Die Menschen, die diese Pakete entgegennehmen möchten, müssen sich zuerst registrieren und erhalten dann ein Zeitfenster. Seit Wochen reisen ukrainische Flüchtlinge aus der ganzen Schweiz nach Zürich. Bis Ende Mai dürfen sie die öffentlichen Verkehrsmittel gratis benützen. Angekommen, stehen sie über drei Stunden an. Jede Woche kommen 500 Einzelpersonen oder Familien hinzu. Insgesamt haben sich bisher 2500 Ukrainer für die Essensausgabe angemeldet.

Wir werden überrannt.
Amine Diare Conde, Initiator «Essen für alle»

Initiator Amine Diare Conde erklärt: «Wir werden überrannt.» Der 24-Jährige kam vor sieben Jahren aus Guinea in die Schweiz. Einst war er Sans-Papiers, nun besitzt er ein Aufenthaltsrecht. Warum die Leute kommen, weiss er nicht. «Einige erhalten auch in ihren Unterkünften zu essen, andere nicht.» Nicht alle Gemeinden seien gleich grosszügig.

Steigende Einkaufspreise

Die Geld- und Naturalienspenden, die der Verein erhält, reichen bei Weitem nicht mehr aus. «Die Leute denken, dass die Flüchtlinge den Schutzstatus S erhalten und damit alles geregelt ist», sagt Conde. Aber auch die Migrationsbehörden sind am Anschlag. Oft dauere es bis zu sechs Wochen, bis die Menschen den Status und damit Geld erhielten.  

Hinzu kommt, dass sich die Lebensmittel wegen des Krieges verteuert haben. Ein Liter Speiseöl kostet heute gut einen Franken mehr. Pro Samstag geben die 100 bis 150 Freiwilligen zwischen 16 und 20 Tonnen Lebensmittel im Wert von bis zu 90 000 Franken ab. Allein das Öl kostet 6000 Franken.

Wenn das Haushaltsbudget knapp ist, dann ist es naheliegend, dass die Leute für Gratisnahrungsmittel anstehen.
Heike Isselhorst, Sprecherin des Zürcher Sozialdepartements

Dass die Wartezeit bis zur Erteilung des Schutzstatus S lang sein kann, bestätigt Heike Isselhorst, Sprecherin des Zürcher Sozialdepartements. Und: «Das Geld reicht nicht für viel, das stimmt.» Doch das sei politisch so gewollt, die Asylgesetzgebung definiere die Höhe der Unterstützung. «Wenn das Haushaltsbudget knapp ist, dann ist es naheliegend, dass die Leute für Gratisnahrungsmittel anstehen.»

Die Personen, die in den städtischen Unterkünften leben, erhalten drei Mahlzeiten pro Tag sowie Zwischenverpflegung, Getränke, Kleider, Hygieneartikel und Futter für ihre Tiere. Das gilt auch für jene Flüchtlinge, die noch in Zürcher Hotels untergebracht sind. Wer privat wohnt und sich beim Bund registrieren lässt, erhält ebenfalls Geld im Rahmen der Asylfürsorge. 

Die Höhe des Betrags ist von Kanton zu Kanton unterschiedlich. In Zürich empfiehlt die Sozialkonferenz für eine Mutter mit zwei Kindern 1300 Franken. Das muss für das Essen, Hygieneartikel, Billette sowie Kleider reichen. Gemeinden dürfen weniger zahlen, übernehmen jedoch Krankenkasse und Unterkunft. Wer privat wohnt, erhält in der Stadt Zürich so viel für die Miete wie Sozialhilfebezüger.

Der Verein will helfen, solange er kann. «Alle, die bei uns anstehen, erhalten zu essen», verspricht Conde. Er habe selbst erfahren, wie schwierig es für Flüchtlinge sein könne. Deshalb könne er diese Leute nicht enttäuschen.