Recherche 28. Juni 2021, von Cornelia Krause

Der Weg dem Fluss des Herzens entlang

Wanderung

Die ehemalige Politikerin und ZKB-Bankrätin Liliane Waldner erwandert Schweizer Flüsse bis zu ihrer Quelle. Und sie läuft damit der Multiplen Sklerose davon.

Die Liebe zu ihrer Heimat trägt Liliane Waldner am Körper: Auf ihrem roten T-Shirt prangen das weisse Kreuz, ein Bernhardiner und ein Alphornbläser. Noch mehr ins -Auge als das T-Shirt sticht aber ihr Gang. Langsam und mit steifen Beinen geht sie vorwärts, lange Teleskopstöcke immer einen halben Meter vor sich zur Stabilisierung. Ab und an will der rechte Fuss nicht so, wie sie es gern hätte. «Aber er ist trotzdem ein Guter, und das sage ich ihm auch», sagt Waldner und lacht.

Die steifen Beine, der störrische Fuss: Sie sind die offensichtlichen Spuren, die die Multiple Sklerose über Jahrzehnte an Waldner hinterlassen hat. Und trotzdem tragen die Beine die 69-Jährige durch die ganze Schweiz, entlang von Flüssen bis hin zu deren Quelle. Tausende Kilometer ist sie in den letzten Jahren gelaufen, 79 Flüsse hat sie erwandert und die Erkundungen auf dem Blog «Flussfrau» dokumentiert.

An diesem Freitagmorgen ist Liliane Waldner auf dem Weg zu ihrem «Fluss des Herzens», der Sihl. Von der Postautohaltestelle Neuheim Tal geht es noch auf asphaltiertem Weg an Bauernhöfen vorbei. Dann das erste Rauschen, der Weg wird kieselig, es geht leicht bergab in den Wald zum Fluss.

Das politische Gen

Kurz vor einer gedeckten Holzbrücke trifft sie zwei ältere Frauen und rät ihnen, auf der anderen Seite des Flusses weiterzugehen: «Dort ist der Weg viel schöner.» Zügig ziehen die Frauen davon, während Waldner gemächlich einen Fuss vor den anderen setzt, jeder Schritt das Resultat täglichen Trainings mit Treppensteigen, Dehnübungen, Muskelaufbau. Lebendiger, ursprünglicher als die Limmat sei die Sihl, findet Waldner. Einmal trage sie klares, dann wieder braunes Wasser. Und sie fliesse durch die Arbeiterquartiere der reichen Limmatstadt.

Waldner fühlt sich der Basis verbunden. Sie wuchs als Tochter einer alleinerziehenden Serviererin in den Stadtkreisen 3 und 4 auf. Ihr Vater war der ugandische Freiheitskämpfer Yusuf Lule, erster Präsident nach dem brutalen Machthaber Idi Amin. Obwohl sie ihn erst mit 30 Jahren kennenlernte, teilte sie mit ihrem Vater die Leidenschaft für Politik. Im Lauf ihrer Karriere hat Waldner Stadt und Kanton Zürich jahrzehntelang gedient: als rechte Hand der ersten Stadträtin Emilie Lieberherr, später als SP-Kantonsrätin. Die Betriebsökonomin engagierte sich als Gewerkschafterin beim VPOD für den Service public und wurde 2003 in den ZKB-Bankrat gewählt, wo sie mit Finanzkrise und Sulzer-Affäre stürmische Zeiten erlebte.

«Für Arbeit wird man belohnt, das wurde mir immer so vermittelt.»
Liliane Waldner, alt Kantonsrätin

Mittlerweile ist Waldner in Rente, aber weiterhin viel beschäftigt, unter anderem in der Kirchenkreiskommission 3. «Sozialdemokratie und Kirche sind zwei Seiten einer Medaille», sagt sie. «Bei beiden geht es um Grundwerte wie Menschlichkeit und soziales Denken.» Als Kind besuchte sie sonntags immer den Gottesdienst, der Glaube ist ihr geblieben, auch das tägliche Gebet. Der Protestantismus hat sie geprägt. «Für Arbeit wird man belohnt, das wurde mir so vermittelt.»

Eine Weisheit, die sich auch im Umgang mit der Krankheit auszahlt. Das Wandern war schon immer Waldners Leidenschaft, als junge Frau ging sie auf SAC-Touren ins Hochgebirge. Aber jahrelang spürte sie, «dass etwas nicht stimmt», mit ein Grund, warum sie nie eine Familie gründete. Erst 1993 erhielt sie die Diagnose MS. Medikamente wollte Waldner nicht nehmen, weil sie die Nebenwirkungen fürchtete. Stattdessen lief sie der Krankheit davon, auf Tagesmärschen von Zürich bis Baden, Luzern oder Samstagern, um beweglich zu bleiben.

Die Kraft der Aare

2010 erlebte Waldner einen heftigen Krankheitsschub, gab ihr Auto auf und kaufte sich ein Generalabonnement. Auf einer Fahrt mit dem Postauto sah sie auf dem Nufenen Wegweiser zu den Bergwanderwegen. «Ich fragte mich, ob ich solche Wege je wieder gehen kann.» 

Nun wird der Weg entlang der Sihl verwunschener und beschwerlicher, Waldner muss über Wurzeln steigen, der Boden ist feucht vom Regen der letzten Tage. Vorsichtig sucht sie festen Tritt, während sie von ihrem Erweckungserlebnis auf einer Wanderung in den Auenwäldern vor Bern erzählt. Eine «riesige Kraft» sei von der Aare ausgegangen. «Sie zog mich in ihren Bann, sie war der erste Fluss, den ich erwandern wollte.» Es war der Beginn ihres «Flussfrau»-Projekts. 2012 kam sie auf dem Weg zur Quelle des Ticino wieder an der Nufenen-Passhöhe vorbei – auf einem roten Bergwanderweg.

Ein wehmütiger Blick

Die Sonne steht hoch über der Sihl, aus dem rauschenden Fluss ragen riesige Felsen, bewachsen mit Bäumen: der Sihlsprung. Da kommen Waldner die zwei Wanderinnen vom Morgen entgegen, sind schon wieder auf dem Rückweg. «Ich ziehe meinen Hut, nein, ich gehe auf die Knie vor Ihnen», ruft eine der Frauen. Waldner lacht. Wegen der Krankheit mit sich oder Gott gehadert habe sie nie. «Es bringt nichts, und ich sehe so viel Schönes.» Nur manchmal erlaubt sie sich einen wehmütigen und bewundernden Blick auf die Jugend. «Wie leichtfüssig die sich bewegen. Aber ich habe auch noch einiges drauf.» Am Sonntag fährt sie ins Waadtland, eine Etappe entlang der Gryonne steht an.